Es ist ein Gefühl, das viele Mütter kennen: Die Zerrissenheit zwischen dem Wunsch, eine gute Tochter zu sein und dem Bedürfnis, eine gute Mutter zu sein. Zwischen den Erwartungen der eigenen Eltern und den Bedürfnissen der eigenen Kinder. Es ist ein Tanz auf einem schmalen Grat, der oft zu Erschöpfung, Schuldgefühlen und dem Gefühl führt, es niemandem recht machen zu können. Doch es gibt einen Weg, aus diesem Teufelskreis auszubrechen: Die Entelterung.
Was bedeutet Entelterung wirklich?
Entelterung ist kein Kontaktabbruch, kein „Eltern-Bashing“, sondern ein Prozess der Loslösung von ungesunden Verstrickungen und Verhaltensmustern, die in der Kindheit entstanden sind. Es geht darum, die Rolle, die man im Familiensystem einnehmen musste, zu hinterfragen und neu zu definieren. Es ist ein Schritt hin zu einem erwachsenen, reifen Umgang mit der eigenen Ursprungsfamilie – und damit auch ein Schritt hin zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung im eigenen Leben. Sandra Teml-Jetter, eine Expertin auf diesem Gebiet, beschreibt es so: „Aus ungesunden Verstrickungen und Verhaltensmustern auszusteigen, die entstanden sind, als wir uns noch als Kinder auf unsere Eltern beziehen mussten.“
Stell dir vor, du bist ein Baum. Deine Wurzeln sind tief in der Erde verankert, verbunden mit dem Boden, der dich nährt. Aber was, wenn dieser Boden vergiftet ist? Was, wenn er dich nicht mehr mit dem versorgt, was du zum Wachsen brauchst, sondern dich stattdessen krank macht? Dann ist es Zeit, die Wurzeln neu auszurichten, einen neuen, gesünderen Boden zu suchen. Entelterung ist dieser Prozess der Neuausrichtung, der es dir ermöglicht, als eigenständige Person zu wachsen und zu blühen, ohne von den Altlasten der Vergangenheit erdrückt zu werden.
Die Masken der Vergangenheit ablegen
Viele von uns haben in ihrer Kindheit eine bestimmte Rolle in der Familie eingenommen: Die brave Tochter, der Streitschlichter, der Clown, der Sündenbock. Diese Rollen waren oft notwendig, um das Familiensystem im Gleichgewicht zu halten, aber sie können uns in unserem Erwachsenenleben behindern. Sie können uns daran hindern, authentisch zu sein, unsere eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen. Sandra Teml-Jetter erzählt von einer Klientin, die sich im Zug umgezogen hat, um den Erwartungen ihrer Eltern zu entsprechen. Ein erschütterndes Beispiel dafür, wie tiefgreifend diese Rollen unser Leben beeinflussen können.
Entelterung bedeutet, diese Masken abzulegen, sich von den Erwartungen anderer zu befreien und zu sich selbst zu finden. Es bedeutet, zu erkennen, dass man nicht mehr das kleine Mädchen oder der kleine Junge ist, der von der Zustimmung der Eltern abhängig ist, sondern eine erwachsene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen treffen kann. Es ist ein mutiger Schritt, der oft mit Ängsten und Unsicherheiten verbunden ist, aber der sich lohnt. Denn am Ende wartet ein Leben voller Authentizität, Freiheit und innerem Frieden.
„Entelterung bedeutet, dass du die metaphorische Sauerstoffmaske nicht mehr nach hinten gibst, in dein Ursprungssystem, sondern dir selbst zuerst aufsetzt.“
Diese Keythesis von Sandra Teml-Jetter verdeutlicht den Kern der Entelterung auf eindrückliche Weise. Es geht darum, die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, sich selbst zu priorisieren und sich nicht länger von den Erwartungen und Forderungen anderer ausbeuten zu lassen. Es ist ein Akt der Selbstliebe und Selbstfürsorge, der es ermöglicht, ein erfülltes und authentisches Leben zu führen.
Woran erkennst du, dass eine Entelterung notwendig ist?
Die Anzeichen für eine ungesunde Verstrickung mit der Ursprungsfamilie können vielfältig sein. Vielleicht fühlst du dich nach einem Besuch bei deinen Eltern ausgelaugt und energielos. Vielleicht leidest deine Partnerschaft oder deine Beziehung zu deinen Kindern unter dem Einfluss deiner Eltern. Vielleicht hast du das Gefühl, immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, obwohl du dir fest vorgenommen hast, es anders zu machen. Oder vielleicht spürst du einfach eine tiefe Unzufriedenheit, ein Gefühl, nicht wirklich frei zu sein.
Wenn du dich in einem oder mehreren dieser Punkte wiedererkennst, könnte eine Entelterung der richtige Weg für dich sein. Es ist ein Prozess, der Zeit und Mut erfordert, aber der dich am Ende zu mehr innerer Stärke, Klarheit und Lebensfreude führen kann. Es geht darum, die eigenen Grenzen zu erkennen und zu wahren, sich von den Erwartungen anderer zu befreien und den eigenen Weg zu gehen.
Der schmerzhafte, aber notwendige Kontaktabbruch
In manchen Fällen ist ein Kontaktabbruch mit den Eltern unumgänglich. Wenn Eltern gewalttätig sind, sei es physisch oder psychisch, wenn sie uneinsichtig sind und sich weigern, Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen, dann ist es wichtig, sich selbst und seine Familie zu schützen. Ein Kontaktabbruch ist keine leichte Entscheidung, aber er kann notwendig sein, um die eigene psychische Gesundheit zu bewahren und ein gesundes Umfeld für die eigenen Kinder zu schaffen.
Es ist wichtig zu erkennen, dass Gewalt viele Gesichter haben kann. Sie kann sich in Form von Demütigungen, Beschimpfungen, Manipulationen oder emotionaler Erpressung äußern. Auch wenn es schwerfällt, sich einzugestehen, dass die eigenen Eltern gewalttätig sind, ist es wichtig, ehrlich zu sich selbst zu sein und die notwendigen Schritte zu unternehmen, um sich und seine Familie zu schützen. Denn niemand hat das Recht, dich schlecht zu behandeln – nicht einmal deine Eltern.
Wie geht man eine Entelterung an?
Der Prozess der Entelterung ist individuell und hängt von der jeweiligen Familiengeschichte und den persönlichen Bedürfnissen ab. Es gibt jedoch einige allgemeine Schritte, die hilfreich sein können:
- Reflexion: Hinterfrage deine Beziehung zu deinen Eltern. Welche Rolle spielst du in der Familie? Welche Erwartungen haben deine Eltern an dich? Welche Bedürfnisse hast du selbst?
- Abgrenzung: Setze klare Grenzen. Sage Nein, wenn du etwas nicht tun möchtest. Lasse dich nicht von deinen Eltern manipulieren oder emotional erpressen.
- Kommunikation: Sprich mit deinen Eltern über deine Gefühle und Bedürfnisse. Erkläre ihnen, dass du dich verändern möchtest und dass du eine andere Art von Beziehung zu ihnen suchst.
- Unterstützung: Suche dir Unterstützung bei Freunden, Familie oder einem Therapeuten. Der Prozess der Entelterung kann emotional herausfordernd sein, und es ist wichtig, jemanden zu haben, der dich unterstützt und dir hilft, deine Gefühle zu verarbeiten.
- Akzeptanz: Akzeptiere, dass du deine Eltern nicht ändern kannst. Konzentriere dich stattdessen darauf, dein eigenes Verhalten zu ändern und deine eigenen Grenzen zu wahren.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Entelterung ein Prozess ist, der Zeit braucht. Es ist nicht etwas, das man von heute auf morgen erreichen kann. Es erfordert Geduld, Mut und die Bereitschaft, sich mit den eigenen Ängsten und Unsicherheiten auseinanderzusetzen. Aber es ist ein Weg, der sich lohnt. Denn am Ende wartet ein Leben voller Authentizität, Freiheit und innerem Frieden.
Der Umgang mit Wut und Schuldgefühlen
Wut und Schuldgefühle sind häufige Begleiter des Entelterungsprozesses. Es ist wichtig, diese Gefühle anzuerkennen und ihnen Raum zu geben. Sei wütend, wenn du wütend bist, aber triff keine Entscheidungen aus der Wut heraus. Nimm dir Zeit, um deine Gefühle zu verarbeiten, bevor du handelst. Und erinnere dich daran, dass es in Ordnung ist, wütend zu sein. Es ist ein Zeichen dafür, dass du dich von alten Mustern befreist und für dich selbst einstehst.
Auch Schuldgefühle sind ein normaler Bestandteil des Entelterungsprozesses. Du hast vielleicht das Gefühl, deine Eltern zu enttäuschen oder ihnen wehzutun. Aber es ist wichtig zu erkennen, dass du nicht für die Gefühle deiner Eltern verantwortlich bist. Sie sind für ihre eigenen Gefühle verantwortlich, und du bist für deine eigenen Gefühle verantwortlich. Wenn du beschlossen hast, die Beziehung zu deinen Eltern zu ändern, dann musst du ihnen zumuten, dass sie mit dieser Entscheidung umgehen können. Und du musst dir selbst erlauben, glücklich zu sein, auch wenn deine Eltern nicht damit einverstanden sind.
Entelterung und die Rolle der Großeltern
Wenn du selbst Kinder hast, kann die Entelterung eine zusätzliche Herausforderung darstellen. Du musst nicht nur deine Beziehung zu deinen Eltern neu definieren, sondern auch die Rolle deiner Eltern als Großeltern für deine Kinder. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass Eltern als Großeltern anders sein können. Vielleicht sind sie liebevoller und geduldiger mit ihren Enkeln als sie es mit dir waren. Oder vielleicht setzen sie ihre alten Verhaltensmuster fort und versuchen, deine Kinder zu manipulieren oder zu kontrollieren.
In jedem Fall ist es wichtig, klare Grenzen zu setzen und deine Kinder vor negativen Einflüssen zu schützen. Wenn du das Gefühl hast, dass deine Eltern deinen Kindern schaden, dann musst du den Kontakt einschränken oder ganz abbrechen. Es ist nicht immer einfach, diese Entscheidung zu treffen, aber das Wohl deiner Kinder sollte immer an erster Stelle stehen. Und erinnere dich daran: Du bist die Mutter, du hast das Sagen. Du entscheidest, wer Zugang zu deinen Kindern hat und wer nicht.
Fazit: Ein Weg zu mehr Selbstbestimmung und innerem Frieden
Entelterung ist ein Prozess der Loslösung von ungesunden Verstrickungen und Verhaltensmustern, die in der Kindheit entstanden sind. Es ist ein Schritt hin zu einem erwachsenen, reifen Umgang mit der eigenen Ursprungsfamilie – und damit auch ein Schritt hin zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung im eigenen Leben. Es ist ein Weg, der Mut, Geduld und die Bereitschaft erfordert, sich mit den eigenen Ängsten und Unsicherheiten auseinanderzusetzen. Aber es ist ein Weg, der sich lohnt. Denn am Ende wartet ein Leben voller Authentizität, Freiheit und innerem Frieden.
Es geht darum, die Masken der Vergangenheit abzulegen, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen, klare Grenzen zu setzen und sich von den Erwartungen anderer zu befreien. Es geht darum, die eigene Wut und Schuldgefühle anzuerkennen und zu verarbeiten, die Rolle der Eltern als Großeltern neu zu definieren und das Wohl der eigenen Kinder an erste Stelle zu setzen. Es ist ein Prozess, der Zeit braucht, aber der dich am Ende zu mehr innerer Stärke, Klarheit und Lebensfreude führen kann. Und es ist ein Geschenk, das du dir selbst und deiner Familie machen kannst.
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