Parentifizierung: Wenn Kinder zu Eltern werden – Ursachen und Folgen

Es ist ein stiller Kampf, der sich oft im Verborgenen abspielt, hinter den Mauern vermeintlich perfekter Familien. Ein Kampf, in dem Kinder viel zu früh erwachsen werden müssen, eine Last tragen, die ihre zarten Schultern kaum stemmen können. Wir sprechen von Parentifizierung, einem Phänomen, bei dem sich die Rollen von Eltern und Kindern auf ungesunde Weise umkehren.

Wenn Kinder Eltern werden: Das Phänomen der Parentifizierung

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Ein Kind, vielleicht gerade erst in der Pubertät, sitzt am Küchentisch und plant den Wocheneinkauf, während die Mutter erschöpft von der Arbeit nach Hause kommt. Oder ein anderes Kind, das stundenlang seinem jüngeren Geschwisterkind die Hausaufgaben erklärt, während der Vater mit seinen eigenen Problemen beschäftigt ist. Diese Kinder sind nicht einfach nur hilfsbereit – sie übernehmen elterliche Aufgaben, für die sie weder ausgebildet noch emotional bereit sind. Sie werden zu kleinen Erwachsenen, die sich um das Wohl der Familie kümmern, während ihre eigenen Bedürfnisse auf der Strecke bleiben.

Parentifizierung ist mehr als nur das gelegentliche Helfen im Haushalt. Es ist eine tiefgreifende Verschiebung der Verantwortlichkeiten, bei der Kinder systematisch und über einen längeren Zeitraum hinweg Aufgaben übernehmen, die normalerweise den Eltern obliegen. Dies kann sich in vielfältiger Weise äußern, von der emotionalen Unterstützung der Eltern bis hin zur Übernahme finanzieller Verantwortung. Das Ergebnis ist jedoch immer dasselbe: Das Kind verliert seine Kindheit und wird mit einer Last konfrontiert, die seine Entwicklung beeinträchtigen kann.

Warnzeichen von Parentifizierung

Warnzeichen von Parentifizierung

Die Auswirkungen auf die betroffenen Kinder sind oft verheerend. Sie lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, um sich um andere zu kümmern. Sie entwickeln ein übermäßiges Verantwortungsgefühl und haben Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen. Sie leiden unter Stress, Angstzuständen und Depressionen. Und oft tragen sie diese Muster bis ins Erwachsenenalter hinein mit sich, was ihre Beziehungen und ihre Lebensqualität beeinträchtigen kann.

Es ist wichtig zu betonen, dass nicht jede Form von Verantwortlichkeit, die Kindern übertragen wird, schädlich ist. Im Gegenteil: Altersgerechte Aufgaben können Kindern helfen, Selbstvertrauen und Kompetenz zu entwickeln. Der Unterschied liegt im Ausmaß und in der Art der Verantwortung. Wenn ein Kind regelmäßig Aufgaben übernimmt, die seine Fähigkeiten übersteigen, und wenn seine eigenen Bedürfnisse dabei ignoriert werden, dann spricht man von Parentifizierung.

Emotionale und instrumentelle Parentifizierung: Zwei Seiten derselben Medaille

Es gibt zwei Hauptformen der Parentifizierung: die emotionale und die instrumentelle. Die emotionale Parentifizierung liegt vor, wenn ein Kind die emotionale Unterstützung für die Eltern übernimmt. Das bedeutet, dass das Kind zum Vertrauten, zum Therapeuten oder zum Friedensstifter wird. Es hört sich die Sorgen der Eltern an, gibt Ratschläge und versucht, Konflikte zu lösen. In solchen Fällen werden Kinder mit Problemen konfrontiert, die sie emotional nicht verarbeiten können. Sie werden zu kleinen Therapeuten, die versuchen, die emotionalen Wunden ihrer Eltern zu heilen.

Die instrumentelle Parentifizierung hingegen bezieht sich auf die Übernahme praktischer Aufgaben. Das Kind kümmert sich um den Haushalt, erledigt Einkäufe, kocht Mahlzeiten, bezahlt Rechnungen oder betreut jüngere Geschwister. Diese Kinder sind oft überfordert und haben kaum Zeit für ihre eigenen Interessen und Hobbys. Sie werden zu kleinen Managern, die den Alltag der Familie organisieren, während ihre eigenen Bedürfnisse auf der Strecke bleiben.

Die Grenzen zwischen emotionaler und instrumenteller Parentifizierung sind oft fließend. In vielen Fällen erleben Kinder beide Formen gleichzeitig. Sie kümmern sich nicht nur um den Haushalt, sondern auch um das emotionale Wohlbefinden ihrer Eltern. Sie werden zu kleinen Allroundern, die versuchen, alle Bedürfnisse der Familie zu erfüllen, während ihre eigenen Bedürfnisse völlig ignoriert werden.

Die Ursachen der Parentifizierung: Ein komplexes Zusammenspiel von Faktoren

Die Ursachen der Parentifizierung sind vielfältig und komplex. Oft spielen mehrere Faktoren zusammen, die dazu führen, dass ein Kind die Rolle eines Elternteils übernimmt. Eine häufige Ursache ist die psychische oder physische Erkrankung eines Elternteils. Wenn ein Elternteil an einer Depression, einer Angststörung oder einer Suchterkrankung leidet, ist er möglicherweise nicht in der Lage, seine elterlichen Pflichten in vollem Umfang zu erfüllen. Das Kind springt dann ein, um die Lücke zu füllen.

Auch finanzielle Schwierigkeiten können zur Parentifizierung führen. Wenn die Eltern aufgrund von Arbeitslosigkeit oder geringem Einkommen unter Druck stehen, sind sie möglicherweise nicht in der Lage, sich ausreichend um ihre Kinder zu kümmern. Das Kind übernimmt dann Aufgaben wie Einkaufen, Kochen oder Babysitten, um die Familie zu entlasten. In solchen Fällen wird das Kind mit finanziellen Sorgen konfrontiert, die es nicht bewältigen kann.

Ein weiterer Faktor, der zur Parentifizierung beitragen kann, ist der Verlust eines Elternteils. Wenn ein Elternteil stirbt oder die Familie verlässt, ist der verbleibende Elternteil möglicherweise überfordert und benötigt die Hilfe des Kindes. Das Kind übernimmt dann Aufgaben, die normalerweise vom anderen Elternteil erledigt wurden. In solchen Fällen wird das Kind mit Trauer und Verlust konfrontiert, die es nicht verarbeiten kann.

Es gibt aber auch Eltern, die ihre Kinder bewusst parentifizieren. Sie nutzen ihre Kinder als emotionale Stütze oder als Helfer im Haushalt, weil sie selbst überfordert oder unfähig sind, ihre elterlichen Pflichten zu erfüllen. In solchen Fällen werden die Kinder instrumentalisiert und ihre Bedürfnisse ignoriert.

Die Parentifizierung lehrt Kinder, dass ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse eine Bedrohung darstellen.

Becky Kennedy, Ph.D., eine anerkannte klinische Psychologin aus New York City, hat dies treffend formuliert: „Kinder lernen, dass ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse eine Bedrohung darstellen.“ Diese Erkenntnis ist der Kern des Problems. Kinder, die parentifiziert werden, lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, um die Bedürfnisse anderer zu erfüllen. Sie entwickeln ein tiefes Misstrauen in ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse und haben Schwierigkeiten, gesunde Beziehungen aufzubauen.

Die langfristigen Folgen der Parentifizierung: Ein Leben im Schatten der Verantwortung

Die Folgen der Parentifizierung können sich bis ins Erwachsenenalter hineinziehen. Menschen, die als Kinder parentifiziert wurden, haben oft Schwierigkeiten, gesunde Beziehungen aufzubauen, Grenzen zu setzen und ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen. Sie leiden unter einem geringen Selbstwertgefühl, Angstzuständen und Depressionen. Sie neigen dazu, sich in Beziehungen aufzuopfern und die Bedürfnisse anderer über ihre eigenen zu stellen.

Ein weiteres Problem ist, dass parentifizierte Kinder oft Schwierigkeiten haben, sich von ihren Eltern abzugrenzen. Sie fühlen sich für das Wohlbefinden ihrer Eltern verantwortlich und haben Angst, sie zu enttäuschen. Dies kann dazu führen, dass sie auch im Erwachsenenalter noch unter dem Einfluss ihrer Eltern stehen und Schwierigkeiten haben, ihr eigenes Leben zu gestalten.

Es gibt aber auch positive Aspekte der Parentifizierung. Kinder, die früh Verantwortung übernehmen mussten, entwickeln oft eine hohe soziale Kompetenz, Empathie und Belastbarkeit. Sie sind in der Lage, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und ihnen zu helfen. Sie sind auch in der Lage, schwierige Situationen zu meistern und Herausforderungen anzunehmen.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Folgen der Parentifizierung nicht immer negativ sein müssen. Wenn die Kinder in der Lage sind, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und gesunde Bewältigungsstrategien zu entwickeln, können sie gestärkt aus der Situation hervorgehen. Sie können ihre Fähigkeiten und Stärken nutzen, um ein erfülltes und erfolgreiches Leben zu führen.

Wege aus der Parentifizierung: Heilung und Neuanfang

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die negativen Folgen der Parentifizierung zu überwinden. Eine Möglichkeit ist die Therapie. Ein Therapeut kann den Betroffenen helfen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten, ihre Gefühle zu erkennen und gesunde Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Er kann ihnen auch helfen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen sowie gesunde Beziehungen aufzubauen.

Eine weitere Möglichkeit ist die Selbsthilfe. Es gibt zahlreiche Bücher, Artikel und Online-Ressourcen, die Betroffenen helfen können, sich mit dem Thema Parentifizierung auseinanderzusetzen und ihre eigenen Muster zu erkennen und zu verändern. Auch der Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen kann hilfreich sein. Die Betroffenen können sich gegenseitig unterstützen und von ihren Erfahrungen lernen.

Es ist nie zu spät, die negativen Folgen der Parentifizierung zu überwinden und ein erfülltes Leben zu führen. Mit der richtigen Unterstützung und den richtigen Strategien können Betroffene ihre Vergangenheit hinter sich lassen und ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen.

Fazit: Die Kindheit zurückgewinnen

Parentifizierung ist ein stiller Kampf, der sich oft im Verborgenen abspielt. Es ist ein Kampf, in dem Kinder viel zu früh erwachsen werden müssen und eine Last tragen, die ihre Entwicklung beeinträchtigen kann. Die Ursachen der Parentifizierung sind vielfältig und komplex, und die Folgen können sich bis ins Erwachsenenalter hineinziehen. Doch es gibt Wege aus der Parentifizierung. Mit der richtigen Unterstützung und den richtigen Strategien können Betroffene ihre Vergangenheit hinter sich lassen und ein neues, erfülltes Leben beginnen. Es ist wichtig, das Bewusstsein für dieses Problem zu schärfen und betroffenen Kindern und Erwachsenen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie benötigen, um ihre Kindheit zurückzugewinnen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

QUELLEN

parents.com

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