Es ist ein Gedanke, der Müttern das Herz zuschnürt: Was bleibt von mir, wenn ich nicht mehr da bin? Wie kann ich meiner Tochter, meinem Sohn etwas Bleibendes hinterlassen, etwas, das mehr ist als nur ein Foto oder ein vergilbter Brief? In einer Welt, die sich immer schneller dreht, in der Erinnerungen digital verblassen und Stimmen im Rauschen der Zeit verloren gehen, gibt es ein Projekt, das genau hier ansetzt: Das Familienhörbuch.
Ein Vermächtnis für die Ewigkeit: Wenn Eltern ihre Lebensgeschichte erzählen
Stell dir vor, du sitzt mit deiner Mutter auf der Couch. Sie ist unheilbar krank, aber ihre Augen leuchten, wenn sie von ihrer Kindheit erzählt, von den Streichen, die sie gespielt hat, von dem ersten Kuss, von den Träumen, die sie hatte. Ihre Stimme wird brüchig, aber sie lacht auch, und plötzlich ist die Traurigkeit für einen Moment vergessen. Diese Momente, diese Geschichten, diese Stimme – sie sind unbezahlbar. Und genau das ist die Idee hinter dem Familienhörbuch. Es gibt Eltern die Möglichkeit, ihre Lebensgeschichte, ihre Erinnerungen und ihre Liebe für ihre Kinder in einem Hörbuch festzuhalten. Ein Geschenk, das über den Tod hinausreicht.
Judith Grümmer, eine ehemalige Hörfunkjournalistin, hatte die zündende Idee zu diesem außergewöhnlichen Projekt. Nach ihrer Pensionierung absolvierte sie eine Fortbildung im Bereich Palliativ-Care und erkannte, wie wichtig es für unheilbar kranke Eltern ist, etwas Bleibendes für ihre Kinder zu schaffen. So entstand „Das Familienhörbuch“, ein Herzensprojekt, das sich ausschließlich aus Spenden finanziert und von den Unikliniken Bonn und Heidelberg begleitet wird. Hier können Mütter und Väter, die wissen, dass sie ihre Kinder nicht bis ins Erwachsenenalter begleiten können, ihre Stimme, ihre Gedanken und ihre Liebe für immer bewahren.
Das Projekt „Familienhörbuch“ schenkt den Betroffenen nicht nur die Möglichkeit, ein Vermächtnis zu hinterlassen, sondern unterstützt sie auch dabei, sich mit den schönen und kraftvollen Seiten ihres Lebens auseinanderzusetzen. Es geht darum, sich an die positiven Erlebnisse zu erinnern, die Lebensfreude wiederzufinden und diese Momente mit ihren Kindern zu teilen. Eine Studie der Uniklinik Bonn untersucht derzeit, wie sich die Hörbücher auf die Trauerbewältigung der Familien auswirken.
Christins Geschichte: Hoffnung und Lebenslust trotz unheilbarer Krankheit
Christin ist eine dieser Mütter. Auf ihrem Instagram-Account our.best.journey teilt sie offen und ehrlich ihr Leben als Palliativpatientin. Ihre Botschaft ist klar: Auch mit einer schweren Diagnose ist es möglich, Hoffnung und Lebenslust zu finden. Die Diagnose Brustkrebs erhielt sie in der 27. Schwangerschaftswoche. Seit ihre Tochter zehn Monate alt ist, gilt sie als unheilbar krank. Heute ist ihre Tochter dreieinhalb Jahre alt, und Christin kämpft jeden Tag für ihr Leben, für ihre Familie und für ihre Träume.
Auf die Frage, wie sie als Mutter mit ihrer Diagnose umgeht, antwortet Christin im Interview mit ELTERN.de: „Palliativmedizin ist ein weites Spektrum. Es heißt nicht automatisch, man stirbt in den nächsten Wochen oder Monaten. Mir persönlich ist wichtig zu zeigen, auch in einer palliativen Zeit kann man glücklich sein. Ich habe unendlich viel Hoffnung, ich lebe.“ Ihre Tochter weiß nichts von ihrer Erkrankung. Sie weiß nur, dass Mama regelmäßig zum Arzt muss und dass Papa sie dann abholt. Abends gibt es ein gemeinsames Ritual: Sie bestellen etwas zu essen und kuscheln zusammen im Bett. Solange Christin keine Chemotherapie machen muss, wird das Thema zu Hause nicht angesprochen. Christin möchte ihrer Tochter eine unbeschwerte Kindheit ermöglichen, so lange es geht.
Christins Geschichte berührt, weil sie zeigt, wie viel Kraft und Liebe in einer Mutter stecken kann. Sie ist ein Vorbild für viele Frauen, die mit einer schweren Krankheit leben und gleichzeitig Mutter sein wollen. Sie beweist, dass es möglich ist, trotz aller Widrigkeiten ein erfülltes Leben zu führen.
Wertvolle Erinnerungen: Mutter flüstert ihrer Tochter auf der Couch zu.
Die Entscheidung für das Familienhörbuch: Ein Wendepunkt
Christin erfuhr über Instagram von dem Projekt „Familienhörbuch“. Eine Mitpatientin erzählte ihr, dass sie bald ihren Termin zur Aufnahme habe. Kurz darauf verstarb die Frau. Für Christin war das ein Wendepunkt. „Ich sagte mir: Ich brauche so ein Hörbuch für meine Familie, sofort!“, erzählt sie im Interview. Innerhalb von zwei Wochen bekam sie ihren Termin. Die Gespräche fanden über Skype statt, da Christin nicht persönlich vor Ort sein konnte. Die Audiobiografin stellte ihr Fragen zu ihrer Kindheit, ihren Lieblingsbeschäftigungen, ihren peinlichen Momenten und ihren Zukunftswünschen. Christin hatte zunächst Bedenken, so viele persönliche Dinge preiszugeben, aber sie fasste schnell Vertrauen zu ihrer Audiobiografin. „Sie hat mich immer wieder zum Erzählen ermutigt, ‚Das gehört einfach zu deinem Leben dazu.‘ Das war eine schöne Erfahrung“, erinnert sie sich.
In einem Kapitel ihres Hörbuchs hat Christin ihre Lieblingsmusik zusammengestellt, darunter auch Lieder aus ihrer Teenie-Zeit, als sie mit 15 „Tokio Hotel“ hörte. Eine berührende Geste, die zeigt, wie viel von einem Menschen in seiner Musik steckt.
„Das Erste, was Menschen vergessen, ist die Stimme.“
Diese einfache, aber so kraftvolle Aussage von Christin bringt die Essenz des Projekts Familienhörbuch auf den Punkt. Die Stimme ist ein Teil von uns, sie transportiert Emotionen, Erinnerungen und Liebe. Wenn ein Kind ein Elternteil verliert, verblasst mit der Zeit auch die Erinnerung an die Stimme. Das Hörbuch bewahrt diese Stimme für immer.
Christins Hörbuch ist etwa sechs Stunden lang geworden. Sie sprach fast ununterbrochen, von morgens bis zum späten Nachmittag. Am Ende hatte sie Halsschmerzen und Kopfschmerzen, aber sie konnte einfach nicht aufhören. Sie hatte ein Familienfoto aufgestellt, das sie immer wieder wegpacken musste, weil die Tränen kamen. Sie richtete persönliche Worte an ihren Mann, ihre Schwiegereltern, ihre Eltern und natürlich an ihre Tochter. Ein Geschenk von unschätzbarem Wert.
Mehr als nur ein Brief: Eine lebendige Erinnerung
Bevor sie vom Familienhörbuch erfuhr, hatte Christin begonnen, Briefe an ihre Tochter zu schreiben. Aber sie merkte schnell, dass sich die Worte immer wiederholten: „Ich liebe dich von ganzem Herzen, es tut mir so leid, wie es gelaufen ist.“ Das Hörbuch hingegen bot ihr die Möglichkeit, ihre Gefühle und Gedanken viel umfassender auszudrücken. Ihre Audiobiografin fragte sie, was sie bisher getan habe, um etwas Persönliches zu gestalten. Christin erzählte von dem Brief, den sie ihrer Tochter zur Hochzeit geschrieben hatte. Ihre Audiobiografin entgegnete daraufhin: „Was, wenn deine Tochter nie heiratet? Oder wenn sie eine Frau heiratet?“ Dieser Denkanstoß öffnete Christin die Augen. Sie erkannte, dass es wichtig ist, ihrer Tochter etwas zu hinterlassen, das unabhängig von ihren Lebensentscheidungen ist, etwas, das ihre Liebe und Unterstützung in jeder Situation zum Ausdruck bringt.
Für Mütter, die in einer ähnlichen Situation sind, ist das Familienhörbuch ein Geschenk. Es ermöglicht ihnen, ihrer Tochter etwas Bleibendes von sich zu hinterlassen.
Ein Gefühl der Freiheit: Loslassen und Erinnern
Seit Christin ihr Familienhörbuch zu Hause hat, fühlt sie sich befreit. Sie weiß, dass sie alles getan hat, um ihrer Familie etwas Wertvolles zu hinterlassen. „Es ist ein beruhigendes Gefühl, es zu haben. Seitdem fühle ich mich einfach frei“, sagt sie. Das Hörbuch ist ihr wertvollster Besitz, den sie weitergeben wird. Es ist ein Geschenk der Liebe, das über den Tod hinausreicht.
Fazit: Ein Vermächtnis der Liebe
Das Projekt „Familienhörbuch“ ist eine wunderbare Initiative, die unheilbar kranken Eltern die Möglichkeit gibt, ihren Kindern etwas Bleibendes zu hinterlassen. Es ist mehr als nur ein Hörbuch, es ist ein Vermächtnis der Liebe, ein Geschenk von unschätzbarem Wert. Christins Geschichte zeigt, wie viel Kraft und Hoffnung in diesem Projekt steckt. Es ist eine Erinnerung daran, wie wichtig es ist, die Stimme der Liebe zu bewahren und die Erinnerungen an unsere Lieben für immer festzuhalten. Für Mütter, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, kann das Familienhörbuch ein Weg sein, ihren Kindern etwas zu hinterlassen, das sie ein Leben lang begleiten wird – ein Stück Mama, das immer bei ihnen ist. Und für uns alle ist es eine Inspiration, die kostbaren Momente mit unseren Liebsten bewusst zu erleben und die Liebe, die uns verbindet, zu feiern.
Eltern.de