Warum Kinder negative Gefühle brauchen für ihre emotionale Entwicklung

Kinder und ihre Gefühle: Warum es wichtig ist, auch negative Emotionen zuzulassen

Als Eltern wollen wir unsere Kinder vor allem schützen – auch vor unangenehmen Gefühlen. Doch gerade wenn der Nachwuchs wütend, traurig oder frustriert ist, neigen wir oft dazu, die Situation schnellstmöglich aufzulösen. Ablenkung, Trost oder gut gemeinte Ratschläge sollen helfen, das Kind wieder „glücklich zu machen“. Aber ist das wirklich der beste Weg? Neuere Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie legen nahe, dass wir unseren Kindern einen wertvollen Dienst erweisen, wenn wir ihnen zutrauen, auch mit negativen Gefühlen umzugehen. Dieser Ratgeber zeigt, wie Sie Ihrem Kind helfen können, emotionale Widerstandskraft zu entwickeln – und warum das für seine gesunde Entwicklung unerlässlich ist.

Warum wir Kindern ihre Gefühle nicht abnehmen sollten

Kennen Sie das? Ihr Kind wirft sich im Supermarkt schreiend auf den Boden, weil es keine Süßigkeiten bekommt. Oder es weint bitterlich, weil ein anderes Kind nicht mit ihm spielen will. In solchen Momenten schaltet bei vielen Eltern der „Rettungsmodus“ ein: Wir wollen unser Kind unbedingt trösten, ablenken oder die Situation irgendwie lösen. Das ist verständlich, denn niemand sieht sein Kind gerne leiden.

Doch genau dieses gut gemeinte Eingreifen kann langfristig problematisch werden. Warum? Weil Kinder dadurch nicht lernen, ihre eigenen emotionalen Herausforderungen zu bewältigen. Wenn wir immer sofort einschreiten, vermitteln wir ihnen unbewusst: „Du kannst mit diesen Gefühlen nicht alleine umgehen“ oder „Diese Gefühle sind nicht in Ordnung und müssen schnell beseitigt werden.“

Dabei sind alle Emotionen – auch Wut, Enttäuschung oder Traurigkeit – wichtige Bestandteile des menschlichen Erlebens. Sie haben eine Funktion und geben uns wertvolle Informationen. Wut zeigt uns Grenzen auf, Trauer hilft bei der Verarbeitung von Verlusten, und selbst Frustration kann motivierend wirken, wenn wir lernen, mit ihr umzugehen.

Kind mit emotionalem Ausdruck
Gefühle aushalten: Wie wir unsere Kinder darin unterstützen, auch mit negativen Emotionen umzugehen.

Ein Paradigmenwechsel in der Erziehung ist daher notwendig: Statt Gefühle zu unterdrücken oder zu überspielen, sollten wir Kinder darin unterstützen, sie zu erkennen, zu benennen und angemessen mit ihnen umzugehen. Diese Fähigkeit nennt man emotionale Kompetenz, und sie ist ein entscheidender Baustein für psychische Gesundheit und Resilienz im späteren Leben.

Der Schlüsselsatz: „Ich bin nicht für das Glück meines Kindes verantwortlich“

Es mag zunächst hart klingen, aber dieser Satz kann eine befreiende Wirkung haben – sowohl für Eltern als auch für Kinder. Natürlich wünschen wir uns nichts sehnlicher, als dass unsere Kinder glücklich sind. Aber die Vorstellung, wir müssten und könnten jederzeit für ihr Glück sorgen, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch kontraproduktiv.

Wenn wir versuchen, unsere Kinder vor jeder Enttäuschung zu bewahren, nehmen wir ihnen wichtige Lernchancen. Denn gerade im Umgang mit schwierigen Gefühlen entwickeln sich Selbstwirksamkeit und emotionale Widerstandskraft. Kinder, die lernen, dass sie auch negative Emotionen aushalten können, gewinnen Vertrauen in ihre eigenen Bewältigungsfähigkeiten.

Wenn wir Kindern zugestehen, alle ihre Gefühle zu erleben – auch die unangenehmen – schenken wir ihnen die Grundlage für emotionale Stärke und Selbstvertrauen. Das ist wertvoller als jeder Versuch, sie vor Enttäuschungen zu bewahren.

Das bedeutet natürlich nicht, dass wir unsere Kinder mit ihren Gefühlen allein lassen sollten. Im Gegenteil: Unsere Aufgabe ist es, ihnen einen sicheren Rahmen zu bieten, in dem sie ihre Emotionen ausdrücken können, und ihnen dabei zu helfen, diese zu verstehen und einzuordnen. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass wir die Gefühle nicht wegnehmen oder unterdrücken, sondern sie begleiten und validieren.

Wie wir Kinder bei ihren Gefühlen unterstützen können

Statt also zu versuchen, Wutanfälle oder Tränen sofort zu beenden, können wir einen anderen Ansatz wählen. Wenn Ihr Kind das nächste Mal emotional aufgewühlt ist, probieren Sie folgende Herangehensweise:

1. Gefühle anerkennen und benennen: „Ich sehe, dass du sehr wütend/traurig/enttäuscht bist.“ Allein diese Anerkennung kann Kindern helfen, sich verstanden zu fühlen.

2. Mitgefühl zeigen: „Das muss wirklich ärgerlich sein für dich.“ Empathie signalisiert dem Kind: Deine Gefühle sind berechtigt, und ich stehe dir bei.

3. Sicherheit bieten: „Ich bin für dich da, während du wütend/traurig bist.“ Kinder brauchen das Gefühl, dass starke Emotionen die Beziehung zu ihren Eltern nicht gefährden.

4. Auf Ablenkung oder schnelle Lösungen verzichten: Widerstehen Sie dem Impuls, sofort abzulenken oder das Problem zu lösen. Geben Sie dem Kind Zeit, das Gefühl zu durchleben.

Ein Beispiel aus dem Alltag: Ihr Kind ist wütend, weil es nicht mehr spielen darf. Statt zu sagen „Hör auf zu schreien“ oder „Schau mal, hier ist dein Lieblingsbuch“, könnten Sie sagen: „Ich verstehe, dass du wütend bist, weil du noch weiterspielen möchtest. Es ist in Ordnung, wütend zu sein. Ich bin hier bei dir.“

Praxis-Ratgeber: So fördern Sie die emotionale Kompetenz Ihres Kindes

Die emotionale Entwicklung gehört zu den wichtigsten Grundlagen für ein gesundes, erfülltes Leben. Mit den folgenden konkreten Strategien können Sie Ihr Kind dabei unterstützen, eine gesunde Beziehung zu seinen Gefühlen aufzubauen.

Gefühlswortschatz erweitern

  • Führen Sie verschiedene Begriffe für Emotionen ein, die über die Grundgefühle hinausgehen: nicht nur „traurig“ oder „wütend“, sondern auch „enttäuscht“, „frustriert“, „überwältigt“ oder „unsicher“.
  • Nutzen Sie Alltagssituationen, um Gefühle zu benennen: „Die Figur im Film wirkt jetzt erleichtert“ oder „Der Hund sieht ängstlich aus“.
  • Sprechen Sie auch über Ihre eigenen Gefühle: „Ich bin gerade etwas genervt, weil ich so viel zu tun habe“ – das zeigt Kindern, dass Emotionen zum Leben aller Menschen gehören.

Hilfsmittel für den Alltag

  • Gefühlskarten oder -poster: Visuelle Darstellungen helfen Kindern, Emotionen zu erkennen und einzuordnen.
  • Bilderbücher zum Thema Gefühle: Bücher wie „Und was fühlst du, Känguru?“ von Nora Imlau oder die Gefühlskarten von Bobo Siebenschläfer bieten Gesprächsanlässe und Identifikationsmöglichkeiten.
  • Gefühlstagebuch für ältere Kinder: Ein einfaches Notizbuch, in dem Kinder ihre täglichen Emotionen festhalten können – mit Worten oder Bildern.
  • Gefühlsbarometer: Eine Skala von 1-10 oder farbige Magnete/Klammern, mit denen Kinder anzeigen können, wie sie sich fühlen, ohne es in Worte fassen zu müssen.

Konkrete Bewältigungsstrategien vermitteln

  • Atemtechniken: „Bauchatmung“ oder „Fünf-Finger-Atmung“ (bei jedem Finger einmal tief ein- und ausatmen) helfen, starke Gefühle zu regulieren.
  • Bewegung als Ventil: Hüpfen, Tanzen, Rennen oder Kissen boxen können helfen, Wut oder Frustration abzubauen.
  • Rückzugsmöglichkeiten schaffen: Ein „Kuschelzelt“, eine „Ruheecke“ oder ein „Wutplatz“ im Kinderzimmer bieten Raum für intensive Gefühle.
  • Kreative Ausdrucksformen fördern: Malen, Kneten oder Musik machen können helfen, Emotionen zu verarbeiten.

Familienkultur des emotionalen Austauschs etablieren

  • Regelmäßige „Gefühlsrunden“ beim Abendessen: Jeder erzählt von einem schönen und einem schwierigen Moment des Tages.
  • Gemeinsames Reflektieren von Konflikten: „Was ist da eigentlich genau passiert? Wie hast du dich gefühlt? Was hättest du gebraucht?“
  • Gefühle willkommen heißen: Vermeiden Sie Sätze wie „Jetzt sei nicht traurig“ oder „Dafür musst du doch nicht weinen“ – sie vermitteln, dass bestimmte Gefühle unerwünscht sind.
  • Lösungsfindung gemeinsam angehen: „Was glaubst du, könnte dir helfen, wenn du das nächste Mal so wütend bist?“

Altersgerechte Ansätze

Für Kleinkinder (2-4 Jahre):

  • Einfache Benennung von Grundgefühlen
  • Körperliche Beruhigungsmethoden (Kuscheln, Schaukeln)
  • Bilderbücher und Handpuppen zur Veranschaulichung von Emotionen

Für Vorschulkinder (4-6 Jahre):

  • Differenziertere Emotionsbegriffe einführen
  • Erste Selbstberuhigungsstrategien üben
  • Rollenspiele zum Thema Gefühle anbieten

Für Schulkinder (6-10 Jahre):

  • Zusammenhänge zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten besprechen
  • Komplexere Bewältigungsstrategien vermitteln
  • Empathie für die Gefühle anderer fördern

Für Preteens/Teens (ab 10 Jahren):

  • Privatspäre respektieren, aber Gesprächsangebote aufrechterhalten
  • Gefühlsregulation in herausfordernden sozialen Situationen thematisieren
  • Mediennutzung und deren emotionale Auswirkungen besprechen

Wann professionelle Hilfe sinnvoll ist

Suchen Sie fachliche Unterstützung, wenn:

  • Ihr Kind über längere Zeit (mehrere Wochen) anhaltend traurig, ängstlich oder gereizt wirkt
  • Emotionale Ausbrüche regelmäßig zu Verletzungen führen (selbst- oder fremdverletzend)
  • Gefühle den Alltag massiv beeinträchtigen (Schulbesuch, Freundschaften, Familienalltag)
  • Sie als Eltern sich überfordert fühlen und eigene emotionale Belastungen die Begleitung Ihres Kindes erschweren

weiterführende Quellen zum Thema

Emotionale Entwicklung als Langzeitprojekt verstehen

Die Entwicklung emotionaler Kompetenz ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Kinder lernen über Jahre hinweg, ihre Gefühle zu verstehen und angemessen mit ihnen umzugehen. Als Eltern können wir diesen Prozess begleiten, aber wir sollten keine sofortigen Ergebnisse erwarten.

Es wird Tage geben, an denen Ihr Kind trotz aller Bemühungen komplett ausrastet. Das ist normal und Teil des Lernprozesses. Auch wir Erwachsene haben schließlich nicht immer unsere Emotionen perfekt im Griff. Wichtig ist die grundsätzliche Haltung: Wir signalisieren unserem Kind, dass alle Gefühle in Ordnung sind und dass wir an seine Fähigkeit glauben, mit ihnen umzugehen.

Besonders für Kinder, die von Natur aus gefühlsstärker sind, ist diese Unterstützung wertvoll. Sie erleben Emotionen oft intensiver und können von Wut, Aufregung oder Traurigkeit regelrecht überwältigt werden. Wenn sie lernen, dass diese intensiven Gefühle normal sind und vorübergehen, gewinnen sie Sicherheit im Umgang mit ihrem emotionalen Erleben.

Praktische Hilfsmittel für den emotionalen Lernprozess

Neben der grundsätzlichen Haltung können auch konkrete Hilfsmittel den emotionalen Lernprozess unterstützen. Bilderbücher zum Thema Gefühle bieten Kindern die Möglichkeit, sich mit verschiedenen Emotionen auseinanderzusetzen, ohne dass sie selbst gerade in der Situation stecken.

Ein besonders empfehlenswertes Buch ist „Und was fühlst du, Känguru?“ von Nora Imlau. Es erzählt von einem kleinen Känguru, das viele verschiedene Gefühle erlebt und manchmal von ihnen überwältigt wird – eine Situation, in der sich viele Kinder wiederfinden können. Das Buch vermittelt auf kindgerechte Weise, dass alle Gefühle ihre Berechtigung haben und dass man lernen kann, mit ihnen umzugehen.

Auch die Gefühlskarten von Bobo Siebenschläfer können eine wertvolle Unterstützung sein. Sie zeigen verschiedene Emotionen in alltäglichen Situationen und helfen Kindern, diese zu erkennen und zu benennen. Besonders für jüngere Kinder, die ihre Gefühle noch nicht gut in Worte fassen können, sind solche visuellen Hilfsmittel hilfreich.

Der langfristige Gewinn: Resilienz und emotionale Intelligenz

Wenn wir unseren Kindern erlauben, das gesamte Spektrum ihrer Gefühle zu erleben und zu verarbeiten, legen wir den Grundstein für zwei wichtige Fähigkeiten: Resilienz und emotionale Intelligenz.

Resilienz – die psychische Widerstandskraft – hilft Kindern, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Kinder, die gelernt haben, dass sie auch schwierige Gefühle aushalten können, entwickeln Vertrauen in ihre eigenen Bewältigungsfähigkeiten. Sie wissen: „Ich kann mit Enttäuschungen umgehen. Ich habe das schon früher geschafft.“

Emotionale Intelligenz umfasst die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und angemessen mit ihnen umzugehen. Diese Kompetenz ist nicht nur für das persönliche Wohlbefinden wichtig, sondern auch für den Erfolg in sozialen Beziehungen – von Freundschaften in der Kindheit bis hin zu Partnerschaften und beruflichen Kontakten im Erwachsenenalter.

Der Schlüsselsatz „Ich bin nicht für das Glück meines Kindes verantwortlich“ mag zunächst befremdlich klingen. Aber wenn wir ihn richtig verstehen, ist er ein Geschenk – sowohl für uns Eltern als auch für unsere Kinder. Er befreit uns von dem unmöglichen Anspruch, unser Kind ständig glücklich machen zu müssen, und er gibt unseren Kindern die Chance, emotionale Kompetenz und Widerstandskraft zu entwickeln.

Also das nächste Mal, wenn Ihr Kind wütend, traurig oder frustriert ist, atmen Sie tief durch und erinnern Sie sich: Es ist nicht Ihre Aufgabe, dieses Gefühl sofort zu beseitigen. Ihre Aufgabe ist es, Ihrem Kind beizustehen, während es lernt, mit diesem Gefühl umzugehen. Und genau das ist ein unschätzbar wertvolles Geschenk für sein weiteres Leben.

QUELLEN

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