Es ist ein Thema, das viele von uns lieber verdrängen würden: Gewalt in der Erziehung. Doch die Realität sieht anders aus, als wir uns vielleicht eingestehen wollen. Hinter verschlossenen Türen, in Familien, die von außen betrachtet ganz normal wirken, findet sie statt – die Ohrfeige, der Klaps auf den Po, die Drohung, das Anschreien. Und auch wenn körperliche Gewalt in den letzten 20 Jahren glücklicherweise seltener geworden ist, hat sich ein anderes, oft übersehenes Problemfeld aufgetan: die psychische Gewalt.
Die unsichtbaren Narben psychischer Gewalt
Stell dir vor, du bist ein Kind und deine Eltern machen dich ständig für ihr Unglück verantwortlich. Du wirst herabgewürdigt, bekommst keine Liebe, keine Zuwendung. Du hast das Gefühl, du störst nur und bist wertlos. Diese Art von psychischer Gewalt hinterlässt tiefe Narben, die oft genauso schlimm sind wie die von körperlicher Gewalt. Tatsächlich erleben fast 20 Prozent der Kinder in Deutschland in irgendeiner Form Erniedrigungen, Vernachlässigung oder Missachtung. Eine erschreckend hohe Zahl, die uns alle wachrütteln sollte.
Als Mutter erinnere ich mich an eine Situation, als mein Sohn, damals vielleicht sieben Jahre alt, versehentlich ein Glas Saft verschüttet hat. Mein erster Impuls war, ihn anzuschreien, ihm Vorwürfe zu machen. Aber dann sah ich seinen Blick – voller Angst und Scham. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie verletzend meine Worte sein konnten. Ich atmete tief durch, half ihm beim Aufräumen und sagte ihm, dass es nicht schlimm sei und jedem mal passieren könne. Diese kleine Änderung in meinem Verhalten, von Vorwurf zu Verständnis, veränderte die ganze Situation und stärkte unsere Bindung. Es sind diese alltäglichen Momente, in denen wir als Eltern die Wahl haben, ob wir Liebe und Unterstützung oder Angst und Unsicherheit säen wollen.
Die Akzeptanz von „leichten“ Körperstrafen
Eine aktuelle Studie zeigt, dass eine knappe Mehrheit der Befragten „leichte“ Körperstrafen wie einen Klaps auf den Hintern für eine probate Erziehungsmethode hält. Eine alarmierende Zahl, die verdeutlicht, dass wir noch lange nicht am Ziel sind. Denn auch wenn das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung seit dem Jahr 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert ist, hat sich in den Köpfen vieler Menschen noch nicht genug verändert. Nach wie vor wird Erziehung oft als Privatsache angesehen, in die sich niemand einmischen soll. Doch gerade hier ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft hinschauen und nicht wegschauen, wenn einem Kind Gewalt angetan wird.
Nachdenkliches Mädchen – ein Symbol für die Folgen von Gewalt in der Erziehung
Die Studie zeigt auch, dass Männer Körperstrafen eher zustimmen als Frauen und dass ältere Menschen häufiger der Meinung sind, ein Klaps auf den Hintern habe noch niemandem geschadet. Diese Ergebnisse sind besorgniserregend, zeigen aber auch, wo wir ansetzen müssen: vor allem bei jungen Männern und in der älteren Generation. Es gilt, Erziehungsvorbilder zu hinterfragen und klarzustellen, dass Gewalt, in welcher Form auch immer, ein absolutes No-Go ist.
Ich erinnere mich an eine Diskussion mit meinem eigenen Vater, der in seiner Erziehung noch ganz andere Maßstäbe hatte. Es war nicht einfach, ihm zu erklären, warum ich meine Kinder anders erziehen wollte, ohne körperliche Strafen. Aber ich versuchte, ihm zu vermitteln, dass es mir wichtig war, eine liebevolle und respektvolle Beziehung zu meinen Kindern aufzubauen, in der sie sich sicher fühlen und ihre Gefühle äußern können, ohne Angst vor Strafe haben zu müssen. Langsam, aber sicher begann er, meine Sichtweise zu verstehen und zu akzeptieren.
„Schlagen ist nie gerechtfertigt!“
Prof. Jörg M. Fegert, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm, bringt es auf den Punkt:
Schlagen ist nie gerechtfertigt!
Eine klare Aussage, die wir uns alle verinnerlichen müssen. Auch wenn Eltern in einem Moment völliger Überforderung mal die Hand ausrutscht, müssen sie den Fehler bei sich suchen, nicht beim Kind. Es ist eine Frage der Haltung: Erkennen wir den Ausrutscher als unser eigenes Scheitern an? Oder machen wir unser Kind dafür verantwortlich, weil es uns angeblich ärgern, zur Weißglut, in den Wahnsinn treiben will? Der nächste Schritt ist, dass wir uns Hilfe holen! Dass wir dafür sorgen, dass wir eine Pause bekommen und durchschnaufen können. Das ist die Art, mit der Eltern Verantwortung für ihre Familie übernehmen müssen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass auch andere Ausraster wie Wutanfälle, knallende Türen oder Schweige-Strafe Formen von Gewalt sind, die ähnlich schlimme Folgen haben können wie körperliche Strafen. Ein Kind, das dauerhaft herabgewürdigt wird, für das Unglück der ganzen Familie verantwortlich gemacht wird, keine Liebe und Zuwendung bekommt, zeigt ähnliche Auffälligkeiten in seiner Entwicklung wie ein Kind, das sexuell missbraucht wurde. Die psychische Gewalt ist bei uns übrigens die häufigste Form der Misshandlung, knapp 20 Prozent der Kinder erleben hierzulande in irgendeiner Form Erniedrigungen, Vernachlässigung oder Missachtung. Die Folgen werden bis heute weitgehend unterschätzt. Unsere Gesellschaft muss anerkennen, dass Gewalt viele Gesichter hat und Kindern immer schadet.
Was dürfen Eltern überhaupt noch?
Viele Eltern sind verunsichert und fragen sich: Was darf ich in der Erziehung überhaupt noch? Sind Strafen und Sanktionen völlig tabu? Wie setze ich meinem Kind dann noch Grenzen? Es ist gut, wenn Eltern sich mit diesen Fragen auseinandersetzen, denn es ist besser, als zu glauben, als Erziehungsberechtigte dürften sie alles. Kinder brauchen feste Regeln und Grenzen, und ihr Fehlverhalten braucht manchmal auch angemessene Konsequenzen. Aber Strafen oder auch Belohnungen führen dabei in der Regel nicht zu einem entspannteren und vertrauensvollen Familienleben. Viel wichtiger ist es, mit den Kindern im Gespräch zu sein, eine gute Beziehung zu ihnen zu haben; ehrlich zu sein und auch über die eigene Hilflosigkeit zu sprechen. Wenn es den Eltern gelingt, ihren Kindern zuzuhören und ihre Gefühle ernst zu nehmen, entsteht Bindung und Vertrauen – die Grundlage für jede gute Konfliktlösung.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass weltweit jedes Jahr eine Milliarde Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 17 Jahren von physischer, sexualisierter oder psychischer Gewalt betroffen sind. Eine erschreckende Zahl, die uns alle dazu auffordert, hinzuschauen und uns für eine gewaltfreie Erziehung einzusetzen.
Ein kleiner Test: Was weißt du über Gewalt in der Erziehung?
Teste dein Wissen und finde heraus, wie gut du über das Thema Gewalt in der Erziehung informiert bist:
- Ein Klaps auf den Hintern hat noch keinem Kind geschadet: Dieser Aussage stimmten in der oben genannten Studie …
- … 80 Prozent der Befragten zu.
- … 52 Prozent.
- … 23 Prozent.
- Aber die Prügelstrafe ist in Deutschland doch verboten, oder?
- Ja, schon lange! Im Zuge der 1968er-Studentenbewegung wurde die Prügelstrafe abgeschafft.
- Ja, zur Jahrtausendwende wurde das Gesetz zur gewaltfreien Erziehung erlassen.
- Nein, es ist Eltern noch immer erlaubt, ihre Kinder zu schlagen.
- Erwachsene, die selbst Gewalt in der Kindheit erlebt haben, …
- … halten sie auch in der Erziehung der eigenen Kinder eher für akzeptabel.
- … lehnen sie umso deutlicher ab, weil sie die schlimmen Erlebnisse den eigenen Kindern ersparen wollen.
- Es ist in Ordnung, ein Kind zur Strafe mal zu ohrfeigen: Von den Befragten für angemessen hielt das …
- … jeder Sechste.
- … jeder Dritte.
- … jeder Zehnte.
- Die Zustimmung zu Körperstrafen bei Kindern ist größer…
- … bei Männern.
- … bei Frauen.
- … bei jüngeren Menschen.
- … bei älteren Menschen.
Die Auflösung:
- Richtig ist: B. 52 Prozent der befragten Erwachsenen in der Ulmer Studie finden einen Schlag auf den Po in Ordnung. Bei einer ähnlichen Befragung von 2005 waren es sogar noch 76 Prozent.
- Richtig ist: B. Kaum zu glauben, dass das Recht auf gewaltfreie Erziehung erst im Jahr 2000 ins Bürgerliche Gesetzbuch kam. Bis dahin war Prügelstrafe geduldet, körperliche Gewalt an Kindern wurde nicht geahndet.
- Richtig ist: A. Erwachsene, die als Kinder selbst körperlich bestraft wurden, stimmen einer Ohrfeige mit 33,5 Prozent etwa zehnmal häufiger zu als Erwachsene, die in der Kindheit keine Körperstrafen erlebt haben (nur 3,5 Prozent Zustimmung).
- Richtig ist: A. Tatsächlich findet gut jeder sechste, nämlich 17,6 Prozent der Befragten, eine leichte Ohrfeige in Ordnung. Immerhin: Die Akzeptanz von Körperstrafen nimmt mit der Härte der Strafe ab: Schläge mit dem Stock wurden von fast allen Befragten abgelehnt: Nur 0,6 Prozent halten diese Strafe für okay.
- Richtig sind: A und D. So finden zum Beispiel 57,8 Prozent der Männer einen Klaps auf den Hintern in Ordnung, aber nur 47,1 Prozent der Frauen. Auch das Alter spielt eine Rolle: 55,4 Prozent der Befragten unter 31 Jahren lehnen derartige Bestrafungen ab, aber nur 34,7 Prozent der über 60-Jährigen.
Fazit: Gewaltfreie Erziehung – ein Ziel, das wir gemeinsam erreichen können
Gewalt in der Erziehung ist ein Thema, das uns alle betrifft. Es ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass Gewalt viele Gesichter hat und Kindern immer schadet. Körperliche Strafen sind genauso schädlich wie psychische Gewalt, und beides hat in einer liebevollen und respektvollen Erziehung nichts zu suchen. Wir müssen als Gesellschaft hinschauen und nicht wegschauen, wenn einem Kind Gewalt angetan wird. Es ist an uns, Erziehungsvorbilder zu hinterfragen, uns Hilfe zu suchen, wenn wir überfordert sind, und unseren Kindern eine gewaltfreie Kindheit zu ermöglichen. Denn jedes Kind hat das Recht auf eine Kindheit ohne Angst und Gewalt.
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