Zwillinge zu haben ist ein ganz besonderes Geschenk, keine Frage. Doch mit dem doppelten Glück kommen auch doppelte Herausforderungen. Oftmals werden Zwillinge als Einheit wahrgenommen, nicht nur von Außenstehenden, sondern auch von den engsten Bezugspersonen – den Eltern. Das ständige Vergleichen, das Anziehen identischer Kleidung und die Frage: „Wer von euch beiden ist …?“ können die Entwicklung einer individuellen Identität erschweren. Aber wie können Eltern ihre Zwillinge bestmöglich unterstützen, ohne dabei die Einzigartigkeit jedes Kindes zu vernachlässigen?
Die Zwillingsfalle: Wenn aus zwei Individuen eine Einheit wird
Stell dir vor, du bist ständig mit jemandem zusammen, der dir nicht nur ähnlich sieht, sondern auch noch die gleiche Umgebung, die gleichen Freunde und oft auch die gleichen Interessen hat. Das kann wunderbar sein, aber auch erdrückend. Zwillinge haben von Geburt an eine besondere Verbindung, eine Art unsichtbares Band, das sie zusammenhält. Diese Verbundenheit kann Geborgenheit und Sicherheit geben, aber auch dazu führen, dass sie sich als Individuen nicht ausreichend entfalten können. Die Schwierigkeit für Eltern besteht darin, dieses Band zu respektieren und gleichzeitig die Kinder in ihrer Individualität zu fördern. Es geht darum, die Balance zu finden zwischen dem „Wir“ und dem „Ich“.
Die Gefahr, Zwillinge als Einheit zu sehen, liegt darin, dass ihre persönlichen Bedürfnisse und Talente übersehen werden. Wenn beide Kinder immer gleich behandelt werden, kann es passieren, dass sie sich in eine bestimmte Rolle hineinzwängen, um sich von ihrem Zwilling zu unterscheiden oder um den Erwartungen der Eltern gerecht zu werden. Dies kann zu Konkurrenzdenken, Eifersucht und einem Gefühl der Unvollständigkeit führen. Besonders deutlich wird dies oft in der Pubertät, wenn die Frage nach der eigenen Identität immer drängender wird.
Die unsichtbare Last: Konkurrenz und Vergleich
Zwillinge wachsen in einer Welt auf, in der sie ständig verglichen werden – sei es in der Schule, im Sport oder im Freundeskreis. „Wer ist besser in Mathe?“, „Wer ist mutiger?“, „Wer ist beliebter?“. Diese Vergleiche können einen enormen Druck erzeugen und das Selbstwertgefühl der Kinder beeinträchtigen. Es ist wichtig, dass Eltern sich dieser Dynamik bewusst sind und aktiv gegensteuern. Sie sollten ihre Kinder darin bestärken, ihre eigenen Stärken und Schwächen zu akzeptieren und sich nicht an anderen zu messen. Stattdessen sollten sie den Fokus auf die individuellen Fortschritte und Leistungen jedes Kindes legen.
Zwillinge im Einklang: So stärken Eltern die Bindung ihrer Kinder
Eine Mutter von Zwillingsjungen erzählte mir einmal, dass sie von Anfang an darauf geachtet hat, ihre Söhne in unterschiedlichen Sportarten anzumelden. Der eine spielte Fußball, der andere ging zum Judo. So konnten beide ihre eigenen Talente entdecken und sich nicht ständig miteinander messen. Diese Strategie half ihren Kindern, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln und ihre Individualität zu stärken.
„Die große, besondere Aufgabe ist, die Zwillinge schon von klein auf, also wirklich von Anfang an, behutsam in dem Trennungsprozess zu begleiten.“
Die Kunst der individuellen Förderung
Wie aber können Eltern ihre Zwillinge nun konkret dabei unterstützen, ihre eigene Identität zu finden und zu festigen? Ilka Poth, Zwillingscoach und -expertin, betont, wie wichtig es ist, Zwillinge von Anfang an als Individuen wahrzunehmen und ihre jeweiligen Interessen und Fähigkeiten zu fördern. Das bedeutet, sich bewusst Zeit für jedes Kind alleine zu nehmen, um herauszufinden, was es bewegt und was es besonders macht. Diese „Quality Time“ kann dazu beitragen, eine starke Mutter-Kind- bzw. Vater-Kind-Bindung aufzubauen, die für die Entwicklung einer gesunden Identität unerlässlich ist.
Es bedeutet auch, die Kinder in ihren Entscheidungen zu unterstützen, auch wenn diese von den Vorstellungen der Eltern abweichen. Wenn ein Zwilling lieber malt als Fußball spielt, sollte er darin bestärkt werden, seinen künstlerischen Neigungen nachzugehen. Wenn der andere Zwilling eine Leidenschaft für Musik hat, sollte er die Möglichkeit bekommen, ein Instrument zu lernen. Es geht darum, die Einzigartigkeit jedes Kindes zu erkennen und zu fördern, ohne dabei Vergleiche anzustellen oder Erwartungen zu projizieren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Förderung der Selbstständigkeit. Eltern sollten ihre Zwillinge ermutigen, auch mal getrennte Wege zu gehen – sei es im Kindergarten, in der Schule oder in der Freizeit. Das bedeutet nicht, dass sie die Kinder auseinanderreißen sollen, sondern vielmehr, dass sie ihnen die Möglichkeit geben, eigene Erfahrungen zu sammeln und eigene Freundschaften zu schließen. Es ist wichtig, dass die Kinder lernen, auch ohne ihren Zwilling zurechtzukommen und sich auf ihre eigenen Stärken zu verlassen.
5 Dinge, die Zwillingseltern wirklich helfen können
Hier sind einige konkrete Tipps, die Zwillingseltern im Alltag helfen können, die Individualität ihrer Kinder zu fördern:
- Zwillinge von Anfang an als Individuen sehen und nicht im Doppelpack: Ihre Interessen und Fähigkeiten wahrnehmen und diese fördern. Das Schlimmste, das Zwillingen passieren kann, ist, als eine Person wahrgenommen zu werden.
- Quality-Time mit jedem Kind allein verbringen: Nur so finden Eltern heraus, was ihre Kinder genau unterscheidet, was sie bewegt und wie sie ticken. Poth erklärt das so: „Bei Zwillingen, wie auch bei Einlingskindern, muss sich eine Mutter-Kind- oder Vater-Kind-Bindung entwickeln. Und das geht nicht, wenn man beide Kinder immer zusammen hat. Das geht am besten in der Interaktion mit einem Kind. Dadurch wird gleichzeitig auch die eigene Identität der Kinder gefördert.“
- Die Zwillinge ganz langsam daran gewöhnen, dass es normal ist, wenn zum Beispiel das eine Kind mal im anderen Zimmer spielt, ohne dass sie sich vermissen müssen, sodass es für sie normal wird. Dabei den Kindern unterstützend zur Seite stehen, wenn eines Probleme dabei hat oder traurig ist. Dadurch wird es ihnen später weniger schwerfallen sich zu trennen.
- Gegenüber den Kindern Vergleichsäußerungen vermeiden und Unterschiede nicht hinterfragen. Die Kinder wertfrei betrachten und ihre Talente und Fähigkeiten nicht gegeneinander aufwiegen oder ausspielen.
- Vergleiche auch in der Schule vermeiden: „Sehr hoher Leistungsdruck (und Anspruch an sich selbst) sowie Perfektionismus sind oft die Folge bei Zwillingen. Denn meist herrscht eine gewisse Erwartungshaltung bei Eltern und Lehrern vor, dass sie aufgrund der Genetik und des gemeinsamen Aufwachsens gleich gut sein müssten. Dabei ist der versteckte Wettbewerb ohnehin immer da, der auch krank machen kann.“ Also auch hier den Druck herausnehmen, achtsam und wertfrei beobachten, was jedes Kind braucht oder besonders gut kann.
Fazit: Zwillinge – doppeltes Glück, doppelte Verantwortung
Die Erziehung von Zwillingen ist eine besondere Herausforderung, aber auch eine unglaublich bereichernde Erfahrung. Es geht darum, die Balance zu finden zwischen der Förderung der Verbundenheit und der Unterstützung der Individualität. Eltern sollten sich bewusst sein, dass Zwillinge von Geburt an eine besondere Beziehung zueinander haben, die es zu respektieren gilt. Gleichzeitig sollten sie ihre Kinder darin bestärken, ihre eigenen Wege zu gehen und ihre eigenen Talente zu entdecken. Indem sie die Einzigartigkeit jedes Kindes wertschätzen und fördern, können sie ihren Zwillingen helfen, zu selbstbewussten und glücklichen Menschen heranzuwachsen.
Es ist ein Tanz zwischen Nähe und Distanz, zwischen Gemeinsamkeit und Individualität. Aber mit Geduld, Liebe und einer großen Portion Einfühlungsvermögen können Eltern ihren Zwillingen die bestmögliche Grundlage für ein erfülltes Leben geben.
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