Geburtsreihenfolge und Persönlichkeit: Wie Geschwister sich unterscheiden

Es ist ein Phänomen, das in fast jeder Familie zu beobachten ist: Geschwister sind unterschiedlich. Oftmals so unterschiedlich, dass man sich fragt, wie sie überhaupt miteinander verwandt sein können. Während die einen zielstrebig und verantwortungsbewusst sind, scheinen die anderen das Leben spielend leicht zu nehmen. Aber woher kommen diese Unterschiede? Ist es Zufall, Erziehung oder steckt vielleicht doch mehr dahinter?

Die Theorie der Geburtsreihenfolge

Die Psychologie hat eine interessante Antwort auf diese Frage: die Geburtsreihenfolge. Bereits seit den 1960er Jahren beschäftigen sich Forscher mit dem Einfluss der Position in der Geschwisterreihe auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes. Die Grundidee ist, dass Eltern ihre Kinder unterschiedlich behandeln, je nachdem, ob es sich um das älteste, mittlere, jüngste oder Einzelkind handelt. Diese unterschiedliche Behandlung prägt wiederum die Persönlichkeit des Kindes.

Kevin Leman, ein Psychologe, der sich seit Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt, erklärt, dass die Geburtsreihenfolge die Position eines Kindes innerhalb der Familie beeinflusst, was sich wiederum auf seinen Charakter auswirken kann. Meri Wallace, eine Kinder- und Familientherapeutin, ergänzt, dass jede Position einzigartige Herausforderungen mit sich bringt. Aber was bedeutet das konkret für die Persönlichkeit Ihres Kindes?

Lassen Sie uns einen Blick auf die typischen Persönlichkeitsmerkmale der verschiedenen Geburtsreihenfolgen werfen. Bedenken Sie jedoch, dass es sich hierbei um allgemeine Tendenzen handelt und jedes Kind einzigartig ist. Die Geburtsreihenfolge ist also nur ein Puzzleteil im großen Bild der Persönlichkeitsentwicklung.

Das älteste Kind: Führungspersönlichkeit oder Perfektionist?

Das älteste Kind betritt Neuland. Eltern sind oft unsicher und versuchen, alles richtig zu machen. Sie lesen Erziehungsratgeber, sind besonders aufmerksam und setzen klare Regeln. Diese intensive Aufmerksamkeit und der Wunsch, alles richtig zu machen, können dazu führen, dass älteste Kinder zu kleinen Perfektionisten werden. Sie streben danach, ihre Eltern zufrieden zu stellen und sich in allem, was sie tun, hervorzutun. Hinzu kommt, dass ältere Geschwister oft früh Verantwortung übernehmen müssen, sei es im Haushalt oder bei der Betreuung jüngerer Geschwister. Das stärkt ihr Verantwortungsbewusstsein, kann aber auch zu Stress führen. Sie sind oft sehr ehrgeizig, zuverlässig und übernehmen gerne die Führung.

Frank Farley, ein Psychologe an der Temple University in Philadelphia, betont, dass die ungeteilte Aufmerksamkeit, die Erstgeborene erhalten, dazu beitragen kann, dass sie überdurchschnittlich erfolgreich sind. Studien zeigen, dass sie oft höhere IQ-Werte erzielen, eine bessere Ausbildung erhalten und mehr verdienen als ihre Geschwister. Allerdings hat der Erfolg auch seinen Preis. Älteste Kinder neigen dazu, Typ-A-Persönlichkeiten zu sein, die sich selbst wenig Ruhe gönnen. Michelle P. Maidenberg, eine Kinder- und Familientherapeutin, erklärt, dass sie oft eine große Angst vor dem Scheitern haben und sich daher nie gut genug fühlen. Ihre Angst vor Fehlern führt dazu, dass sie ungern Risiken eingehen und sich außerhalb ihrer Komfortzone bewegen.

Glückliche Familie am Esstisch

Geburtsreihenfolge und Persönlichkeit: Ein fröhlicher Moment am Esstisch.

Folgende Stärken und Herausforderungen sind typisch für älteste Kinder:

Stärken des ältesten Kindes:

  • Verantwortungsbewusst
  • Ehrgeizig
  • Zuverlässig
  • Führungsqualitäten
  • Erfolgreich

Herausforderungen des ältesten Kindes:

  • Perfektionistisch
  • Angst vor dem Scheitern
  • Unflexibel
  • Stressanfällig

Die Erkenntnisse über Geburtsreihenfolgen bieten Eltern die Chance, bewusster auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen. Wenn Sie beispielsweise feststellen, dass Ihr ältestes Kind zu hart mit sich selbst ins Gericht geht, können Sie ihm gezielt Mut zusprechen und ihm helfen, einen gesünderen Umgang mit Fehlern zu entwickeln.

Das mittlere Kind: Vermittler oder Übersehene?

Mit der Geburt des zweiten Kindes ändert sich die Familiendynamik. Die Eltern sind erfahrener und gehen die Erziehung entspannter an. Gleichzeitig müssen sie ihre Aufmerksamkeit auf zwei Kinder verteilen, was dazu führen kann, dass sich das mittlere Kind vernachlässigt fühlt. Es ist weder der gefeierte Erstgeborene noch der verwöhnte Nesthäkchen. Diese Position zwischen den Stühlen kann dazu führen, dass mittlere Kinder zu Vermittlern werden, die stets um Harmonie bemüht sind. Sie lernen früh, Kompromisse einzugehen und sich an unterschiedliche Situationen anzupassen.

Meri Wallace erklärt, dass sich mittlere Kinder oft fragen: „Wer bin ich eigentlich?“. Sie versuchen, ihren Platz in der Familie zu finden und sich von ihren Geschwistern abzugrenzen. Da die Aufmerksamkeit der Eltern oft dem ältesten oder jüngsten Kind gilt, suchen mittlere Kinder oft Anerkennung bei ihren Freunden. Sie knüpfen enge Beziehungen außerhalb der Familie und sind weniger stark an ihr Elternhaus gebunden.

„Mittlere Kinder sind oft die stillen Diplomaten in der Familie, die unbemerkt Brücken bauen und Konflikte entschärfen, ohne dabei ihre eigenen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren.“

Frank Sulloway, Autor von „Born to Rebel“, stellt fest, dass mittlere Kinder in Persönlichkeitstests höhere Werte in Verträglichkeit erzielen als ihre älteren und jüngeren Geschwister. Dies spiegelt ihre Fähigkeit wider, sich anzupassen und mit anderen auszukommen. Linda Dunlap, Professorin für Psychologie am Marist College in Poughkeepsie, New York, ergänzt, dass mittlere Kinder oft die ersten sind, die mit Freunden verreisen oder bei ihnen übernachten.

Allerdings kann die Position des mittleren Kindes auch negative Auswirkungen haben. Da sie nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie ihre Geschwister, können sie sich übersehen und unwichtig fühlen. Michelle P. Maidenberg betont, dass es für mittlere Kinder leicht ist, im Trubel unterzugehen. Studien haben gezeigt, dass Eltern jüngeren Kindern nicht die gleiche kognitive Unterstützung zukommen lassen wie Erstgeborenen, was dazu führt, dass sie bestimmte Aspekte der Erziehung vernachlässigen.

Folgende Stärken und Herausforderungen sind typisch für mittlere Kinder:

Stärken des mittleren Kindes:

  • Kompromissbereit
  • Anpassungsfähig
  • Verträglich
  • Gute soziale Kompetenzen
  • Starke Freundschaften

Herausforderungen des mittleren Kindes:

  • Fühlt sich vernachlässigt
  • Geringes Selbstwertgefühl
  • Schwierigkeiten, sich zu behaupten

Das jüngste Kind: Freigeist oder Manipulator?

Das jüngste Kind profitiert von der Erfahrung der Eltern. Diese sind entspannter und toleranter. Sie lassen dem Nesthäkchen mehr Freiheiten und setzen weniger strenge Regeln. Das jüngste Kind lernt schnell, seinen Charme einzusetzen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es ist oft extrovertiert, gesellig und hat einen guten Sinn für Humor. Kein Wunder also, dass viele berühmte Schauspieler und Komiker die jüngsten ihrer Familien sind. Studien zeigen, dass jüngste Kinder in Persönlichkeitstests ebenfalls hohe Werte in Verträglichkeit erzielen.

Allerdings kann die Rolle des Nesthäkchens auch negative Auswirkungen haben. Jüngste Kinder haben oft das Gefühl, dass ihre Leistungen nicht so wertgeschätzt werden wie die ihrer älteren Geschwister. Kevin Leman erklärt, dass sie das Gefühl haben, dass alles, was sie tun, schon von anderen erreicht wurde. Sie lernen später sprechen, lesen und Fahrrad fahren als ihre Geschwister, was dazu führen kann, dass ihre Eltern weniger begeistert reagieren. Darüber hinaus können jüngste Kinder lernen, ihre Rolle als Nesthäkchen zu nutzen, um andere zu manipulieren und ihren Willen durchzusetzen. Da sie oft weniger diszipliniert werden als ihre Geschwister, können sie verwöhnt und unselbstständig sein.

Folgende Stärken und Herausforderungen sind typisch für jüngste Kinder:

Stärken des jüngsten Kindes:

  • Charismatisch
  • Extrovertiert
  • Humorvoll
  • Abenteuerlustig
  • Anpassungsfähig

Herausforderungen des jüngsten Kindes:

  • Fühlt sich unterbewertet
  • Manipulativ
  • Verwöhnt
  • Unselbstständig

Das Einzelkind: Super-Erstgeborener oder Einzelgänger?

Das Einzelkind nimmt eine Sonderstellung ein. Es genießt die ungeteilte Aufmerksamkeit und Unterstützung seiner Eltern, nicht nur für kurze Zeit wie ein Erstgeborener, sondern für immer. Das macht das Einzelkind zu einer Art „Super-Erstgeborenen“. Es hat alle Ressourcen und Erwartungen seiner Eltern auf seinen Schultern. Einzelkinder sind oft sehr selbstständig, verantwortungsbewusst und intelligent. Sie haben früh Kontakt zu Erwachsenen und entwickeln daher eine reife Denkweise.

Allerdings kann die Rolle des Einzelkindes auch negative Auswirkungen haben. Da sie keine Geschwister haben, mit denen sie konkurrieren oder sich vergleichen können, können sie Schwierigkeiten haben, soziale Kompetenzen zu entwickeln. Sie können egozentrisch, verwöhnt und ungeduldig sein. Darüber hinaus können sie unter dem hohen Erwartungsdruck ihrer Eltern leiden und sich einsam fühlen.

Folgende Stärken und Herausforderungen sind typisch für Einzelkinder:

Stärken des Einzelkindes:

  • Selbstständig
  • Verantwortungsbewusst
  • Intelligent
  • Reife Denkweise
  • Kreativ

Herausforderungen des Einzelkindes:

  • Egozentrisch
  • Verwöhnt
  • Schwierigkeiten mit sozialen Kompetenzen
  • Hoher Erwartungsdruck
  • Einsamkeit

Fazit

Die Geburtsreihenfolge ist ein faszinierendes Thema, das uns hilft, die Unterschiede zwischen Geschwistern besser zu verstehen. Obwohl es sich hierbei nur um eine von vielen Einflussfaktoren handelt, kann das Wissen um die typischen Persönlichkeitsmerkmale der verschiedenen Geburtsreihenfolgen Eltern dabei unterstützen, ihre Kinder besser zu verstehen und auf ihre individuellen Bedürfnisse einzugehen. Es ist wichtig zu betonen, dass jedes Kind einzigartig ist und seine eigene Persönlichkeit entwickelt. Die Geburtsreihenfolge ist also kein Schicksal, sondern lediglich eine Tendenz. Indem Eltern die Stärken ihrer Kinder fördern und ihnen helfen, ihre Herausforderungen zu meistern, können sie ihnen den bestmöglichen Start ins Leben ermöglichen.

QUELLEN

parents.com

Lese auch