Lieblingskind-Syndrom: Auswirkungen und Tipps für eine faire Behandlung

Es ist ein heikles Thema, das in vielen Familien unter der Oberfläche brodelt: Gibt es ein Lieblingskind? Und wenn ja, welche Auswirkungen hat das auf die Psyche aller Beteiligten? Studien zeigen, dass die Bevorzugung eines Kindes keine Seltenheit ist. Doch was bedeutet das für das „goldene Kind“ und seine Geschwister? Und was können Eltern tun, um negative Folgen abzuwenden?

Die heimliche Wahrheit: Lieblingskinder in der Familie

Die Frage, ob Eltern ihre Kinder gleich lieben, ist fast schon ein Tabu. Die meisten Mütter und Väter beteuern, jedes Kind im gleichen Maße zu lieben. Doch die Realität sieht oft anders aus. Eine amerikanische Langzeitstudie zum Thema Bevorzugung in Familien brachte überraschende Ergebnisse zutage. Drei Viertel der Mütter gaben an, einem ihrer Kinder näher zu stehen. Für viele Eltern war es das erste Mal, dass sie sich mit diesem Thema auseinandersetzten. Die Frage, zu welchem Kind sie die größte Nähe empfanden, offenbarte oft unbewusste Präferenzen. Und diese Präferenzen können weitreichende Konsequenzen haben, denn das weniger bevorzugte Kind wird so möglicherweise früh als „enttäuschend“ abgestempelt und später auch so behandelt.

glückliche Familie

Familienglück oder Bevorzugung? Wie sich das Lieblingskind-Syndrom auf Kinder auswirkt.

Dieses Phänomen ist in der Psychologie als „Parental Differential Treatment“ bekannt, also als elterliche Ungleichbehandlung. Eine Studie aus Hongkong ergab, dass dies in 65 Prozent der Familien vorkommt. Es ist also weit verbreiteter, als man vielleicht denkt. Und das, obwohl die meisten Eltern fest davon überzeugt sind, alle ihre Kinder gleich zu behandeln.

Warum wird ein Kind zum Lieblingskind?

Die Gründe für die Bevorzugung eines Kindes sind vielfältig. Oftmals erfahren Lieblingskinder mehr Aufmerksamkeit, Wärme und Nähe. Oder aber sie erleben weniger Kontrolle und Maßregelungen. Bei jüngeren Kindern kann es schlicht daran liegen, dass sie mehr Zeit mit den Eltern verbringen als ihre Geschwister. Es ist wichtig zu verstehen, dass dies selten eine bewusste Entscheidung der Eltern ist. Psychologie-Professorin Laurie Kramer betont, dass Eltern sich oft gar nicht bewusst sind, dass sie ein Lieblingskind haben. Es kann passieren, weil ein Kind einfacher zu erziehen ist, Eltern sich besser mit ihm identifizieren oder Ähnlichkeiten zwischen sich und dem Kind erkennen. Der Entwicklungspsychologe Hartmut Kasten nennt weitere Motive, wie zum Beispiel:

  • Ähnlichkeit: Eltern bevorzugen oft Kinder, die ihnen ähnlich sind, sei es im Charakter oder im Aussehen.
  • Erfüllung von Erwartungen: Wenn ein Kind die Erwartungen der Eltern erfüllt, wird es eher bevorzugt.
  • Bedürfnisse des Kindes: Kinder, die pflegeleichter sind oder weniger Aufmerksamkeit fordern, werden manchmal bevorzugt, weil sie den Eltern weniger Arbeit machen.

Diese Motive sind selten böswillig, aber sie können subtile Dynamiken in der Familie erzeugen, die langfristige Auswirkungen haben. Es ist wichtig, dass Eltern sich dieser Mechanismen bewusst werden, um aktiv gegenzusteuern.

Die Folgen der Ungleichbehandlung: Ein Leben lang

Die Bevorzugung eines Kindes hat Auswirkungen, die bis ins Erwachsenenalter reichen. Sie betreffen nicht nur das Lieblingskind selbst, sondern auch die Geschwister und deren Beziehung zueinander. Es ist ein komplexes Zusammenspiel von Gefühlen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen, das die gesamte Familie prägt.

Die Erkenntnis, dass elterliche Bevorzugung langfristige Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und die Beziehungen innerhalb der Familie hat, ist entscheidend für das elterliche Verhalten und die Familienharmonie.

Familienforscherin Megan Gilligan von der BBC warnt davor, dass das „goldene Kind“ zu sein, nicht immer rosig ist. Es kann zu emotionalem Stress führen, insbesondere im Erwachsenenalter. Studien zeigen, dass Lieblingskinder häufiger unter depressiven Symptomen leiden. Dies liegt oft an Konflikten mit den Geschwistern, die sich benachteiligt fühlen. Die Spannungen innerhalb der Familie können das psychische Wohlbefinden erheblich beeinträchtigen. Hinzu kommen Schuldgefühle gegenüber den Geschwistern und ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber den Eltern, was eine zusätzliche Belastung darstellt.

Der Psychologe Hartmut Kasten ergänzt, dass Lieblingskinder oft unrealistische Erwartungshaltungen entwickeln. Sie erwarten auch von anderen Menschen eine bevorzugte Behandlung. Bleibt diese aus, ziehen sie sich zurück und sind unglücklich. Auf der anderen Seite können die Folgen für das benachteiligte Kind noch tiefgreifender sein. Ungleichbehandlung kann zu einem geringen Selbstwertgefühl, Depressionen, Ängsten und Verhaltensproblemen führen. Auch die Beziehung zu den Eltern kann nachhaltig geschädigt werden. Es entsteht ein Gefühl der Ungerechtigkeit, das sich wie ein Schatten über die gesamte Kindheit legt.

Was können Eltern tun, um Schäden abzuwenden?

Jedes Kind fühlt sich phasenweise benachteiligt. Dieses Gefühl ist sehr subjektiv. In einer Familie mit mehreren Kindern kann es vorkommen, dass jedes Kind glaubt, ein anderes Geschwisterkind sei das Lieblingskind. Und diese Wahrnehmung kann von der Einschätzung der Eltern abweichen. Klar ist: Eltern können nie das exakt gleiche Maß an Aufmerksamkeit und Fürsorge für jedes Kind zu jeder Zeit aufbringen. Aber es gibt Möglichkeiten, um die negativen Auswirkungen von Ungleichbehandlung zu minimieren.

Der erste Schritt ist, sich bewusst zu werden, ob man ein heimliches Lieblingskind hat. Und wenn ja, warum das so ist. Es ist wichtig, die eigenen Motive zu hinterfragen und zu reflektieren. Was sind die Gründe für die Bevorzugung eines Kindes? Sind es Ähnlichkeiten, Erwartungen oder einfach nur die Tatsache, dass dieses Kind weniger „Arbeit“ macht? Sobald man sich dieser Mechanismen bewusst ist, kann man aktiv gegensteuern. Das bedeutet, jedem Kind die gleiche Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenzubringen, unabhängig von seinen Eigenschaften oder Leistungen.

Hier sind einige konkrete Tipps, die Eltern helfen können, ihre Kinder gleichwertig zu behandeln:

  • Zeit für jedes Kind: Nehmen Sie sich regelmäßig Zeit für jedes Kind einzeln. Unternehmen Sie etwas zusammen, spielen Sie ein Spiel oder führen Sie einfach nur ein Gespräch.
  • Interessen fördern: Unterstützen Sie die individuellen Interessen und Talente jedes Kindes. Zeigen Sie echtes Interesse an dem, was ihnen wichtig ist.
  • Lob und Anerkennung: Loben Sie jedes Kind für seine individuellen Leistungen und Anstrengungen. Vermeiden Sie Vergleiche mit den Geschwistern.
  • Gleiche Regeln: Stellen Sie sicher, dass für alle Kinder die gleichen Regeln gelten. Behandeln Sie Verstöße konsequent und fair.
  • Offene Kommunikation: Sprechen Sie offen mit Ihren Kindern über ihre Gefühle und Bedürfnisse. Hören Sie ihnen aufmerksam zu und nehmen Sie ihre Sorgen ernst.

Es ist ein fortwährender Prozess, der viel Selbstreflexion und Achtsamkeit erfordert. Aber es lohnt sich, denn eine faire und liebevolle Behandlung aller Kinder ist die Grundlage für eine gesunde und harmonische Familie.

Fazit: Das Lieblingskind-Dilemma – Ein Appell an die elterliche Achtsamkeit

Das Phänomen des Lieblingskindes ist in vielen Familien Realität, oft unbewusst und mit weitreichenden Folgen. Studien belegen, dass elterliche Ungleichbehandlung nicht nur die Psyche des bevorzugten und benachteiligten Kindes beeinflusst, sondern auch die gesamte Familiendynamik nachhaltig prägt. Die Erkenntnis, dass Bevorzugung zu Depressionen, geringem Selbstwertgefühl und gestörten Beziehungen führen kann, ist alarmierend. Glücklicherweise gibt es Wege, diesen negativen Kreislauf zu durchbrechen.

Der Schlüssel liegt in der elterlichen Achtsamkeit und Selbstreflexion. Eltern müssen sich ihrer eigenen Präferenzen bewusst werden und aktiv daran arbeiten, jedem Kind die gleiche Wertschätzung und Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Das bedeutet, individuelle Interessen zu fördern, Leistungen anzuerkennen und eine offene Kommunikation zu pflegen. Es geht nicht darum, jedes Kind gleich zu lieben, denn das ist unmöglich. Aber es geht darum, jedes Kind gleichwertig zu behandeln und ihm das Gefühl zu geben, geliebt und wertgeschätzt zu werden, so wie es ist. Nur so kann eine gesunde und harmonische Familienumgebung geschaffen werden, in der sich alle Kinder entfalten und entwickeln können.

QUELLEN

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