Wie das Familienauto zur Erziehungsakademie wird

Als ich zum ersten Mal mit meinem Kind im Auto saß, hatte ich keine Ahnung, was mich erwarten würde. Natürlich, ich hatte mich monatelang auf die Geburt vorbereitet, Bücher über Entwicklungsphasen gewälzt und das Kinderzimmer liebevoll eingerichtet. Aber niemand hatte mich darauf vorbereitet, dass unser Familienauto zu einem der intensivsten Erziehungsräume werden würde – nicht für mein Kind, sondern für mich selbst.

Heute, Jahre später, kann ich mit einem Schmunzeln zurückblicken auf all die Momente zwischen Vordersitz und Rückbank, die mich als Elternteil geformt haben. Unsere Fahrten – ob kurz zum Supermarkt oder lang in den Urlaub – wurden zu Lektionen in Geduld, Kreativität und manchmal auch in Demut.

Die rollende Erziehungsanstalt: Wenn Kinder uns den Spiegel vorhalten

Es war auf einer ganz normalen Fahrt zum Kindergarten, als ich von einem anderen Autofahrer rücksichtslos geschnitten wurde. Reflexartig entfuhr mir ein Fluch, den ich sofort bereute – aber nicht schnell genug. „Mama, das Wort darf man doch nicht sagen!“, kam es prompt von der Rückbank. Mein Kind, gerade mal vier Jahre alt, erinnerte mich daran, dass kleine Ohren immer mithören und kleine Münder gerne wiederholen, was sie aufschnappen.

Diese Situation war nur der Anfang meiner Erziehung zum vorbildlichen Elternteil hinterm Steuer. Ich lernte schnell, meine Wortwahl zu kontrollieren, denn die Vorstellung, dass mein Kind im Kindergarten fröhlich mein Vokabular zum Besten geben könnte, war erschreckend genug.

Das Familienauto ist kein einfaches Transportmittel – es ist ein Mikrokosmos des Familienlebens, in dem Eltern oft mehr lernen als ihre Kinder.

Besonders peinlich wurde es, als ich mit vier Kindern – zwei eigenen und zwei von Freunden – auf dem Weg zum Schwimmkurs in eine Radarkontrolle geriet. Die Erklärung für die 23 km/h zu viel auf dem Tacho musste ich gleich zweimal abgeben: erst den Polizeibeamten und dann den vier kleinen „Richtern“ auf der Rückbank. Die Fahrt wurde zu einer unfreiwilligen Lehrstunde über Verkehrsregeln und deren Konsequenzen – hauptsächlich für mich.

Familie im Auto
Im Familienauto lernen Eltern täglich dazu und überdenken ihre Erziehungsmethoden neu.

Ich bin nicht die Einzige mit solchen Erfahrungen. Laut einer Umfrage der Versicherungskammer Bayern verbringen Familien durchschnittlich 4,5 Stunden pro Woche gemeinsam im Auto. Das sind über 230 Stunden im Jahr – mehr Zeit, als viele Familien bewusst am Esstisch miteinander verbringen. Kein Wunder also, dass diese Momente so prägend sind.

Zen-Meister werden – ganz ohne Meditationskurs

Es gibt Momente im Auto, die jedes Elternteil an seine Grenzen bringen: Das Baby, das während eines kilometerlangen Staus schreit und sich nicht beruhigen lässt. Die Sommerhitze, die trotz Klimaanlage unerträglich wird, während man im Feiertagsverkehr festsitzt. Oder die endlose Wiederholung des immer gleichen Kinderlieds auf einer sechsstündigen Autobahnfahrt.

An einem besonders denkwürdigen Tag musste ich die komplette „Bibi und Tina“-CD zum gefühlt fünfzigsten Mal hören. Mein innerer Monolog wechselte zwischen „Bitte nicht noch einmal“ und „Atme tief durch, es macht die Kinder glücklich“. Ich lernte in diesem Moment mehr über innere Ruhe als in jedem Achtsamkeitsseminar, das ich je besucht hatte.

Und dann sind da noch die Geschwisterstreitigkeiten, die im Auto eine ganz besondere Qualität entwickeln. Mein persönlicher Favorit kam eines Tages von der Rückbank: „MAMAAA! Leo hat aus MEINEM Fenster geguckt!“ Wie man auf einer Streitigkeit über Fensterblicke angemessen reagiert, stand in keinem meiner Erziehungsratgeber. Ich musste improvisieren und entwickelte mit der Zeit ein Repertoire an Ablenkungsmanövern und Kompromissvorschlägen, die selbst erfahrene Diplomaten beeindruckt hätten.

Die wahre Kunst der Elternschaft zeigt sich nicht in perfekt organisierten Kindergeburtstagen, sondern in der Fähigkeit, auf einer zweistündigen Autofahrt mit streitenden Kindern gelassen zu bleiben.

Ein befreundeter Familientherapeut erklärte mir einmal, dass diese Situationen tatsächlich wertvoll sind: „Im Auto können Kinder nicht weglaufen oder sich in ihr Zimmer zurückziehen. Sie müssen ihre Konflikte aushalten – und Eltern lernen, wie sie vermitteln können, ohne die Kontrolle zu verlieren.“ Ein schwacher Trost in dem Moment, aber rückblickend hatte er recht.

Vom Kampfplatz zum Beichtstuhl – die unerwarteten Qualitäten des Familienautos

Es gibt aber auch die anderen Momente – die stillen, intimen Gespräche, die oft überraschend im Auto entstehen. Es hat etwas von einer Psychoanalyse-Sitzung: Man sitzt nah beieinander, muss sich aber nicht in die Augen schauen. Diese besondere Konstellation schafft einen Raum, in dem Kinder oft Dinge ansprechen, die sie sonst vielleicht für sich behalten würden.

Auf einer langen Fahrt von Berlin nach Hamburg lernte ich die Lektion der Konsequenz auf die harte Tour. Meine dreijährige Tochter hatte entdeckt, dass sie ihren Fünfpunktgurt mit einem Fingerdruck öffnen konnte – was sie mit diebischer Freude immer wieder tat. Erklärungen über Sicherheit prallten an ihr ab wie Regentropfen an einer Windschutzscheibe. Nach dem fünften Versuch blieb mir nichts anderes übrig, als anzuhalten – jedes Mal, wenn sie den Gurt öffnete. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich auf der Standspur stand, aber irgendwann hatte sie verstanden: Ohne Gurt fährt das Auto nicht weiter. Eine Lektion in Konsequenz für uns beide.

Eines meiner wertvollsten Autoerlebnisse entstand aus einer vermeintlichen Katastrophe. Bei einem England-Urlaub bekamen wir einen Mietwagen ohne Radio und CD-Spieler – und hatten eine Tagesreise von London nach Newcastle vor uns. Nach anfänglichem Murren begannen meine Kinder, alle Lieder zu singen, die sie kannten. Was als Notlösung begann, wurde zu einem unserer schönsten gemeinsamen Erlebnisse. Wir sangen stundenlang, erfanden neue Strophen und lachten viel. Vieles aus diesem Urlaub habe ich vergessen, diese Autofahrt nicht.

Inzwischen sind meine Kinder fast erwachsen. Sie könnten als junge Erwachsene durchgehen – bis zu dem Moment, in dem sie ins Auto steigen. Dann wird plötzlich wieder akribisch darüber verhandelt, wer vorne sitzen darf und wer die Musikauswahl bestimmen kann. Meine Vorschläge werden dabei konsequent ignoriert. Manchmal denke ich wehmütig an die Zeit zurück, als ich noch die Macht über den CD-Spieler hatte. Bald wird mein Ältestes den Führerschein machen, und eine neue Ära beginnt. Wie werden sie dann streiten, wenn beide vorne sitzen können?

In all den Jahren habe ich gelernt, dass das Auto mehr ist als ein Transportmittel. Es ist ein Ort des Lernens, der Konflikte, der Versöhnung und manchmal auch der tiefsten Gespräche. Ein Ort, an dem wir als Eltern täglich dazulernen – über unsere Kinder, aber vor allem über uns selbst.

QUELLEN

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