Es ist Freitagabend, kurz nach 20 Uhr. Ich sitze auf der Couch, die Beine hochgelegt, und atme tief durch. Der Tag war lang, intensiv und voller kleiner Herausforderungen. Mein Kind sollte eigentlich schon im Bett liegen – unsere Regel ist klar: 19:30 Uhr beginnt die Abendroutine, spätestens um 20 Uhr ist Licht aus. So steht es quasi in unserem imaginären Familien-Regelwerk.
Doch als ich nach oben gehe, um nach dem Rechten zu sehen, entdecke ich mein Kind noch hellwach am Schreibtisch, vertieft in ein Bastelprojekt. Bunte Papierstreifen, Kleber und Stifte sind über den ganzen Tisch verteilt. „Was machst du denn da noch? Es ist schon nach acht!“, sage ich mit diesem typischen Eltern-Tonfall, der Überraschung und leichte Ermahnung zugleich transportiert.
Mein Kind schaut nicht einmal auf, so konzentriert ist es bei der Sache. „Ich mache nur noch schnell das hier fertig. Bitte, Mama! Das ist für morgen!“ Die kleinen Finger arbeiten geschickt an einem komplizierten Papierflieger – offenbar Teil eines Wettbewerbs in der Schule.
Der tägliche Kampf zwischen Regeln und Ausnahmen
In diesem Moment spüre ich den inneren Konflikt, den wohl alle Eltern kennen: Soll ich konsequent sein und auf unseren Regeln bestehen? Oder mache ich eine Ausnahme und lasse mein Kind noch die zehn Minuten fertig basteln, die es offensichtlich braucht?
Diese kleinen Entscheidungen treffen wir als Eltern täglich, manchmal stündlich. Sie mögen banal erscheinen, doch sie formen die Atmosphäre in unserer Familie und die Beziehung zu unseren Kindern. Jedes Mal, wenn wir vor der Wahl stehen – konsequent bleiben oder flexibel sein – spielen wir eine komplexe Partie Schach mit unseren Werten, Bedürfnissen und der Frage, welche Art von Eltern wir sein wollen.
Früher war ich eine Verfechtern der absoluten Konsequenz. Regeln sind Regeln, dachte ich. Sie geben Struktur und Sicherheit. Wenn man einmal nachgibt, wird das Kind das System durchschauen und immer wieder versuchen, die Grenzen zu verschieben. So hatte ich es in Erziehungsratgebern gelesen, so wurde es mir von wohlmeinenden Familienmitgliedern eingebläut.
Als Eltern ist es nicht unsere Aufgabe, perfekt konsequent zu sein, sondern authentisch und liebevoll zu reagieren – auch wenn das manchmal bedeutet, unsere eigenen Regeln zu hinterfragen.
Doch mit der Zeit habe ich gelernt, dass Erziehung keine Gleichung mit nur einer richtigen Lösung ist. Manche Tage verlaufen anders als geplant. Manche Momente erfordern Flexibilität statt starrer Regeln. Und manchmal liegt in der bewussten Inkonsequenz ein tieferer Wert als in der sturen Einhaltung von Vorgaben.
Ich schaue meinem Kind zu, wie es mit leuchtenden Augen den fast fertigen Papierflieger betrachtet. Die Konzentration, die Freude am Erschaffen, die Vorfreude auf den morgigen Tag – all das würde ich mit einem strikten „Jetzt aber sofort ins Bett!“ zunichtemachen.
Inkonsequenz als Schlüssel zum entspannten Familienleben: Diese Mutter beweist, dass Flexibilität im Alltag für mehr Harmonie sorgt.
„Okay“, sage ich mit einem Lächeln. „Zehn Minuten noch, dann räumst du auf und gehst ins Bett. Deal?“ Das strahlende Gesicht meines Kindes ist Antwort genug. Und während ich zusehe, wie die letzten Faltungen am Papierflieger vorgenommen werden, spüre ich, dass diese kleine Ausnahme von unserer Regel gerade genau richtig ist.
Zwischen Bedürfnissen und Wünschen unterscheiden
Natürlich kann ich nicht immer nachgeben. Das wäre weder gesund für mein Kind noch praktikabel für unseren Familienalltag. Die Kunst der bewussten Inkonsequenz liegt darin, zu unterscheiden: Wann ist Flexibilität angebracht, und wann braucht es klare Grenzen?
Ich habe für mich einen inneren Kompass entwickelt, der mir bei diesen Entscheidungen hilft. Dabei unterscheide ich zwischen Wünschen und Bedürfnissen meines Kindes. Hinter jedem Wunsch – sei es „noch fünf Minuten spielen“ oder „noch ein Eis“ – steht ein tieferes Bedürfnis: nach Autonomie, nach Zuwendung, nach Freude oder Selbstwirksamkeit.
Wenn mein Kind vor dem Abendessen nach Süßigkeiten fragt, ist das ein Wunsch. Das Bedürfnis dahinter könnte Hunger sein, vielleicht aber auch der Wunsch nach einem besonderen Genussmoment oder nach Aufmerksamkeit. Hier bleibe ich meist konsequent, biete aber Alternativen an: „Nach dem Essen können wir gemeinsam einen leckeren Nachtisch machen.“
Wenn mein Kind jedoch an einem heißen Sommertag vor dem Mittagessen um ein Eis bettelt, während wir am Eisstand vorbeikommen, sehe ich darin manchmal mehr als nur einen Wunsch. Es geht um den besonderen Moment, die gemeinsame Freude, die Spontaneität. Dann kann ich durchaus mal sagen: „Heute machen wir eine Ausnahme. Eis vor dem Mittag – warum nicht?“
Bewusste Inkonsequenz bedeutet nicht Regellosigkeit, sondern die Fähigkeit, im richtigen Moment flexibel zu sein und dabei die Beziehung zu unserem Kind über starre Prinzipien zu stellen.
Ich erinnere mich an einen Tag im letzten Sommer. Wir waren im Freibad, und eigentlich sollten wir längst nach Hause fahren – Abendroutine, Hausaufgaben, all die Verpflichtungen riefen. Doch mein Kind hatte gerade Freundschaft mit einem anderen Kind geschlossen, sie spielten begeistert im Wasser. Die Sonne stand tief, das Licht war golden, und die Freude in den Gesichtern der Kinder war unbezahlbar.
Ich holte tief Luft und entschied: Die Hausaufgaben können warten. Dieser Moment ist wichtiger. Die zusätzliche Stunde im Freibad wurde zu einer unserer schönsten Erinnerungen des Sommers. Hätte ich an diesem Tag auf strikte Konsequenz bestanden, wäre dieser magische Moment verloren gegangen.
Ein neues Verständnis von elterlicher Konsequenz
Manchmal frage ich mich, woher eigentlich dieser enorme Druck kommt, als Eltern immer konsequent sein zu müssen. Ist es die Angst, die Kontrolle zu verlieren? Die Sorge, dass unsere Kinder uns nicht respektieren, wenn wir einmal nachgeben? Oder ist es vielleicht der Vergleich mit anderen Eltern, die scheinbar alles im Griff haben?
Die Wahrheit ist: Es gibt keinen Pokal für die konsequentesten Eltern. Und Kinder brauchen keine perfekten Eltern, sondern authentische, die ihre Entscheidungen reflektieren und mit Herz treffen.
Natürlich gibt es nicht-verhandelbare Regeln in unserer Familie. Alles, was die Sicherheit, Gesundheit und den respektvollen Umgang miteinander betrifft, ist nicht verhandelbar. Wir schnallen uns im Auto an. Wir putzen unsere Zähne. Wir sprechen nicht abwertend übereinander oder andere Menschen.
Aber viele andere Regeln dürfen hinterfragt werden. Muss das Zimmer wirklich jeden Tag aufgeräumt sein, oder reicht einmal pro Woche? Ist es so schlimm, wenn mein Kind ausnahmsweise im Wohnzimmer übernachtet, weil es sich das so sehr wünscht? Und ja – ist es wirklich ein Problem, wenn die Schlafenszeit an einem besonderen Abend mal um eine halbe Stunde nach hinten verschoben wird?
An jenem Abend mit dem Papierflieger-Projekt war mein Kind tatsächlich etwas später im Bett als sonst. Aber der Flieger wurde fertig, und am nächsten Tag kam es strahlend aus der Schule: Der selbstgebaute Flieger hatte den Wettbewerb gewonnen. Die Freude und der Stolz in den Augen meines Kindes waren unbezahlbar – und bestätigten mich in meiner Entscheidung, in diesem Moment bewusst inkonsequent gewesen zu sein.
Mittlerweile sehe ich diese kleinen Momente der Flexibilität nicht mehr als Scheitern meiner elterlichen Autorität, sondern als Ausdruck einer tieferen Form von Konsequenz: der Konsequenz, immer das Wohl und die Beziehung zu meinem Kind in den Mittelpunkt zu stellen. Manchmal bedeutet das, an Regeln festzuhalten. Und manchmal bedeutet es, sie mit einem Lächeln zu brechen.
In dieser Balance zwischen Struktur und Flexibilität, zwischen klaren Grenzen und liebevollen Ausnahmen liegt für mich das Geheimnis einer harmonischen Familienbeziehung. Und wenn ich abends müde ins Bett falle, frage ich mich nicht: „War ich heute konsequent genug?“, sondern: „Habe ich heute die richtigen Entscheidungen für unser Familienglück getroffen?“
Die Antwort liegt oft in den kleinen Momenten der Nähe, des gemeinsamen Lachens und ja – manchmal auch in einem fertigen Papierflieger, der eigentlich nach Schlafenszeit gebastelt wurde.
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