Es war mal wieder einer dieser Nachmittage. Die Sonne schien golden durchs Fenster, während Emma, eine sonst so fröhliche Fünfjährige, plötzlich in Tränen ausbrach. Ihr Turm aus Bauklötzen, den sie mit so viel Mühe errichtet hatte, war eingestürzt. Nicht irgendein Turm, nein, es war ihr „Zauberschloss für Prinzessin Lillifee“, wie sie betonte. Und nun lag es in Trümmern. Ihr kleiner Bruder Max, zwei Jahre alt und noch nicht ganz im Bilde, was Emmas Gefühle betrafen, lachte vergnügt. Das war der Moment, in dem die kleine Welt von Emma zusammenbrach.
Wenn Kinder die Welt intensiver fühlen
Viele Mütter kennen solche Szenen. Kinder, die scheinbar aus dem Nichts heraus in tiefe Trauer, Wut oder Angst verfallen. Es sind die sogenannten „stark fühlenden“ Kinder. Diese Kinder nehmen die Welt um sich herum viel intensiver wahr. Ein kleiner Kratzer am Knie wird zur Katastrophe, ein missglücktes Bild zum Weltuntergang. Was für Außenstehende oft übertrieben wirkt, ist für diese Kinder bittere Realität. Sie fühlen eben tiefer, intensiver und ungefilterter.
Die Wissenschaft spricht von hochsensiblen Menschen. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung sollen zu dieser Gruppe gehören. Was bedeutet das für den Alltag? Diese Kinder reagieren stärker auf äußere Reize wie Lärm, Licht oder Berührungen. Aber auch auf die Stimmungen ihrer Mitmenschen. Sie sind wie kleine Antennen, die alles aufsaugen und verarbeiten. Das kann wunderschön sein, denn sie sind oft sehr empathisch, kreativ und intuitiv. Aber es kann auch sehr anstrengend sein, sowohl für das Kind selbst als auch für die Eltern.
Als Mutter eines solchen Kindes steht man oft vor der Frage: Wie gehe ich damit um? Wie kann ich meinem Kind helfen, seine Gefühle zu verstehen und zu regulieren? Wie kann ich es vor einer Welt schützen, die oft zu laut, zu schnell und zu unbarmherzig ist? Die Antworten sind vielfältig und individuell, aber es gibt einige grundlegende Strategien, die sich bewährt haben.
Bevor wir uns diesen Strategien zuwenden, ist es wichtig zu verstehen, was in diesen kleinen Köpfen und Herzen vor sich geht. Es geht nicht darum, dass diese Kinder „schwieriger“ oder „anstrengender“ sind. Es geht darum, dass sie die Welt anders erleben. Und das ist weder gut noch schlecht, sondern einfach eine Tatsache. Kinder, die stark fühlen, sind oft sehr kreativ und haben ausgeprägte künstlerische Fähigkeiten. Sie lieben es, zu malen, zu basteln, zu musizieren oder Geschichten zu erfinden. Diese kreativen Tätigkeiten helfen ihnen, ihre Gefühle auszudrücken und zu verarbeiten. Sie haben oft eine blühende Fantasie und können sich stundenlang in ihren eigenen Welten verlieren.
Es ist wichtig, die Gefühle unserer Kinder anzuerkennen und zu validieren, anstatt sie abzutun oder zu minimieren.
Ein weiterer Vorteil ist ihre ausgeprägte Empathie. Sie spüren intuitiv, wenn es jemandem schlecht geht, und sind oft sehr hilfsbereit und mitfühlend. Sie sind die Kinder, die auf dem Spielplatz trösten, wenn ein anderes Kind hinfällt, oder die ihr Lieblingskuscheltier abgeben, wenn jemand traurig ist. Diese Empathie macht sie zu wundervollen Freunden und Partnern, aber sie kann sie auch verletzlich machen. Denn sie nehmen auch den Schmerz und das Leid anderer Menschen sehr stark wahr.
Es ist wie bei Anna, deren Tochter Lisa regelmäßig in Tränen ausbrach, wenn sie im Fernsehen Bilder von hungernden Kindern sah. „Ich konnte ihr dann kaum erklären, dass wir hier in Sicherheit sind und genug zu essen haben. Sie hat so sehr mitgelitten, dass sie stundenlang untröstlich war“, erzählt Anna. In solchen Momenten ist es wichtig, dem Kind zu zeigen, dass seine Gefühle berechtigt sind, aber auch, dass es nicht die ganze Welt retten muss. Es geht darum, einen gesunden Umgang mit der eigenen Empathie zu finden.
Ein weiterer Punkt ist die hohe Sensibilität für Ungerechtigkeit. Stark fühlende Kinder haben ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und reagieren oft sehr empfindlich, wenn sie Ungerechtigkeit erleben oder beobachten. Sie sind die Kinder, die sich für Schwächere einsetzen, die auf Missstände aufmerksam machen und die sich nicht scheuen, ihre Meinung zu sagen. Das kann im Schulalltag manchmal zu Konflikten führen, aber es ist auch eine wertvolle Eigenschaft, die es zu fördern gilt.
Strategien für den Alltag mit stark fühlenden Kindern
Was also können Eltern tun, um ihre stark fühlenden Kinder zu unterstützen? Hier sind einige bewährte Strategien:
- Validierung und Verbindung: Nehmen Sie die Gefühle Ihres Kindes ernst. Auch wenn sie Ihnen übertrieben erscheinen. Sagen Sie nicht: „Das ist doch nicht so schlimm“, sondern: „Ich sehe, dass du traurig bist“. Versuchen Sie, sich in Ihr Kind hineinzuversetzen und ihm zu zeigen, dass Sie es verstehen.
Das bedeutet, dass man als Mutter oder Vater lernt, die großen Gefühle des Kindes nicht einfach abzutun oder zu ignorieren. Stattdessen sollte man sich aufrichtig bemühen, die Welt aus den Augen des Kindes zu sehen. Wenn das Kind weint, weil sein Lieblingsspielzeug kaputt gegangen ist, dann ist das in diesem Moment seine Realität. Anstatt zu sagen: „Stell dich nicht so an, es ist doch nur ein Spielzeug“, könnte man sagen: „Ich verstehe, dass du traurig bist, weil dein Spielzeug kaputt ist. Das ist wirklich ärgerlich.“
Diese einfache Validierung kann Wunder wirken. Denn sie zeigt dem Kind, dass seine Gefühle berechtigt sind und dass es mit seinen Sorgen ernst genommen wird. Es fühlt sich verstanden und nicht allein gelassen. Und das ist die Basis für eine starke und vertrauensvolle Beziehung.
- Benennen der Gefühle: Helfen Sie Ihrem Kind, seine Gefühle zu identifizieren und zu benennen. Fragen Sie: „Bist du wütend? Traurig? Enttäuscht?“. Je besser Ihr Kind seine Gefühle versteht, desto besser kann es damit umgehen.
Manchmal sind Kinder überwältigt von ihren Emotionen und können sie nicht richtig einordnen. Sie spüren nur ein diffuses Unbehagen, wissen aber nicht, was genau in ihnen vorgeht. Hier können Eltern helfen, indem sie dem Kind verschiedene Gefühlswörter anbieten und ihm helfen, das passende Wort für seine momentane Verfassung zu finden. „Bist du vielleicht frustriert, weil du das Puzzle nicht lösen kannst? Oder bist du eher enttäuscht, weil dein Freund heute nicht mit dir spielen kann?“
Diese Übung hilft dem Kind, seine Gefühle zu differenzieren und zu verstehen. Es lernt, dass es für jede Emotion ein eigenes Wort gibt und dass es nicht allein mit seinem Gefühl ist. Und je besser das Kind seine Gefühle benennen kann, desto besser kann es sie auch kommunizieren und regulieren.
- Vorbereitung ist alles: Stark fühlende Kinder lieben Routinen und Vorhersehbarkeit. Bereiten Sie Ihr Kind auf neue Situationen vor. Erzählen Sie ihm, was passieren wird, wer dabei sein wird und was es erwarten kann.
Überraschungen und unerwartete Veränderungen können stark fühlende Kinder aus dem Gleichgewicht bringen. Sie brauchen Zeit, um sich auf neue Situationen einzustellen und sich darauf vorzubereiten. Deshalb ist es wichtig, sie so gut wie möglich auf das vorzubereiten, was kommt. Wenn ein Arztbesuch ansteht, erzählen Sie Ihrem Kind im Vorfeld genau, was passieren wird. Erklären Sie ihm, dass der Arzt ihm in die Ohren schauen wird, dass er ihn abhören wird und dass er ihm vielleicht eine Spritze geben muss. Zeigen Sie ihm Bilder vom Wartezimmer und vom Arzt und beantworten Sie alle seine Fragen geduldig.
Diese Vorbereitung hilft dem Kind, sich sicherer und kontrollierter zu fühlen. Es weiß, was auf es zukommt und kann sich mental darauf einstellen. Und je besser es vorbereitet ist, desto weniger Angst und Stress wird es empfinden.
- Grenzen und Rückzugsorte: Schaffen Sie klare Grenzen und Regeln, aber geben Sie Ihrem Kind auch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, wenn es überfordert ist. Ein ruhiger Ort, an dem es ungestört sein kann, kann Wunder wirken.
In unserer lauten und hektischen Welt ist es für stark fühlende Kinder besonders wichtig, einen Ort zu haben, an dem sie zur Ruhe kommen und sich entspannen können. Das kann ein gemütliches Zimmer sein, eine Kuschelecke im Wohnzimmer oder auch nur ein bestimmter Sessel, auf dem sie sich wohlfühlen. Wichtig ist, dass dieser Ort frei von Ablenkungen ist und dass das Kind dort ungestört sein kann. Hier kann es lesen, malen, Musik hören oder einfach nur dösen. Es kann seine Gefühle verarbeiten und neue Kraft tanken.
Genauso wichtig sind klare Grenzen und Regeln. Stark fühlende Kinder brauchen Struktur und Orientierung. Sie müssen wissen, was erlaubt ist und was nicht. Das gibt ihnen Sicherheit und hilft ihnen, sich in der Welt zurechtzufinden. Die Regeln sollten altersgerecht sein und konsequent durchgesetzt werden. Aber es ist auch wichtig, flexibel zu sein und auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Wenn es einen schlechten Tag hat, darf man auch mal eine Ausnahme machen.
Umgang mit überfordernden Emotionen
- Sanfte Disziplin: Stark fühlende Kinder reagieren empfindlich auf Kritik und Bestrafung. Setzen Sie auf sanfte Disziplin, die auf Verständnis und Empathie basiert. Erklären Sie Ihrem Kind, warum sein Verhalten nicht in Ordnung war und wie es sich in Zukunft besser verhalten kann.
Anstatt das Kind zu beschimpfen oder zu bestrafen, sollte man versuchen, ihm zu erklären, warum sein Verhalten nicht richtig war. Man kann ihm erzählen, wie sich der andere Mensch gefühlt hat und warum sein Handeln Konsequenzen hatte. Wichtig ist, dass man dabei ruhig und sachlich bleibt und nicht emotional wird. Man sollte dem Kind das Gefühl geben, dass man es liebt und wertschätzt, auch wenn es einen Fehler gemacht hat. Und man sollte ihm helfen, aus seinem Fehler zu lernen und es in Zukunft besser zu machen.
Emotionale Erinnerungen bleiben bei stark fühlenden Kindern besonders tief verankert. Scham und Schuldgefühle können besonders schädlich sein. Daher ist es wichtig, dem Kind zu zeigen, dass Fehler zum Leben dazugehören und dass man daraus lernen kann. Man sollte ihm helfen, sich selbst zu vergeben und nach vorne zu schauen.
Letztendlich geht es darum, dem Kind zu helfen, seine Gefühle zu verstehen und einen gesunden Umgang damit zu finden. Es geht darum, ihm die Werkzeuge an die Hand zu geben, die es braucht, um in einer oft überwältigenden Welt zu bestehen. Und es geht darum, ihm zu zeigen, dass es geliebt und wertgeschätzt wird, so wie es ist.
Genauso wie Sarah, die Mutter des achtjährigen Tim, der immer wieder mit Wutausbrüchen zu kämpfen hatte. „Ich habe ihn früher immer ausgeschimpft, wenn er wieder mal ausgeflippt ist. Aber das hat alles nur noch schlimmer gemacht“, erzählt Sarah. „Irgendwann habe ich angefangen, mich mit ihm hinzusetzen und ihm zuzuhören. Ich habe ihn gefragt, was ihn so wütend macht und warum er sich so fühlt. Und ich habe versucht, ihm zu erklären, dass es in Ordnung ist, wütend zu sein, aber dass er lernen muss, seine Wut auf eine gesunde Art und Weise auszudrücken.“
Es brauchte Zeit und Geduld, aber mit der Zeit lernte Tim, seine Wut zu kontrollieren und seine Gefühle auszudrücken. Er malte Bilder, schrieb Gedichte oder ging einfach nur eine Runde um den Block, wenn er merkte, dass er wütend wurde. Und Sarah lernte, ihm in diesen Momenten zur Seite zu stehen und ihn zu unterstützen.
Fazit: Stark fühlende Kinder sind eine Bereicherung
Stark fühlende Kinder sind eine Bereicherung für unsere Welt. Sie sind empathisch, kreativ, intuitiv und haben ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Sie bringen uns dazu, die Welt mit anderen Augen zu sehen und unsere eigenen Gefühle zu hinterfragen. Es ist zwar nicht immer einfach, sie zu erziehen, aber es lohnt sich. Denn am Ende sind es diese Kinder, die die Welt verändern werden.
Umarmt eure Kinder, hört ihnen zu und nehmt ihre Gefühle ernst. Gebt ihnen die Werkzeuge an die Hand, die sie brauchen, um in dieser Welt zu bestehen. Und vergesst nie, dass sie etwas ganz Besonderes sind.
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